BE zu Wir empfehlen: BRIGITTE. REIMANN Kinder ‚von Hellas 212 Seiten mit.‚Zeichnungen von Kurt Zühhmermann, Halbleinen4,10 DM Dumpf grollend, dann wieder grell und peitsch@ild bricht sich das Echo an den zerklüfteten Bergen Nordgriechenlands — Bürgerkrieg! In diese Atmosphäre führt die junge Schriftstellerin ihre Le- ser. In einer breit angelegten, spannungsgeladenen Novelle schildert Brigitte Reimann das Leben in einer Pärfisanenein- heit, die Liebe zweier junger Menschen und. deit gemeinen Verrat, durch den diese große Liebe ein jähes Ende findet. Was die Autorin des erfolg- reichen Buches „Frau am Pranger“ in ihrer Erzählung „Der Tod der schöne Helena“ nur andeuten konnte, hat sie hier so feinfühlig, ergreifend und mitreißend gestaltet, daß der Leser völlig in den Bann der Schilderung gezogen wird. VERLAG DES MINISTERIUMS FÜR NATIONALE VERTEIDIGUNG Liz.-Nr.5/T 1399 „Plattert mir 1940 eine Karte ins Haus, Absender: Wehr- bezirkskommando! Ich soll mich zur Musterung einfinden! Das muß doch wohl ein Irr- tum sein! Zuchthäusler — ‚Un- termenschen‘ in der stolzen Wehrmacht? ... Hundert Mann, Jahrgang 1910 und 1911. Die ‚zukünftigen Helden‘ werden mit mir zum Bewährungsbataillon 999 ein- gezogen, das sich aus kriminell und politisch Vorbestraften zu- sammensetzt. Sie sollen, wie es heißt, durch Bewährung ihre Schande wiedergutmachen. Wieder sind wir Gefangene. Die gestreifte Uniform des Zuchthäuslers haben wir mit der des Zwangssoldaten ver- tauschen müssen ...“ Soweit der Autor selbst. Unvermittelt wird man in das aufregende Geschehen hinein- gerissen und kommt nicht wie- der davon los. Antifaschistische Gesinnung ünd Tat bestimmen Inhalt und Darstellung dieses Tatsachenberichtes über das Strafbataillon 999, darum ist alles echt. Atemberaubend die- ser Weg eines Widerstands- kämpfers vom Zuchthaus Bran- denburg über den Heuberg nach Belgien, Italien, die So- wijetunion und schließlich nach Griechenland. ERWIN BARTZ SOLDAT AUF BEWÄHRUNG VERLAG DES MINISTERIUMS FÜR NATIONALE VERTEIDIGUNG BERLIN 1956 Schutzumschlag, Einband und Textillustrationen. von Herbert Böhnke Alle Rechte vorbehalten Tiz.Ne 5/I1 Gesamtherstellung: Druckerei des Verlages des Ministeriiins for Nationale Verteidigung PEIKER-WILLI Eigentlich müßte ich es längst gewohnt sein nach einem Vierteljahr Einzelhaft, dieses krachende Schließen. Allein, ich zucke immer wieder zusammen. So! Jetzt rasch in die Ecke: Männchen gebaut, Meldung gebrüllt. Der Schlüssel knirscht. Chinesen-Karl, einer der wenigen an- ständigen Beamten des Zuchthauses Brandenburg, winkt ab. „Hier kommt ein Mann zu; vertragt euch gutl“ Krach - Chinesen-Karl ist draußen, und ein „Zugang“ steht in meiner Zelle. Mit ihm soll ich Monate, vielleicht sogar Jahre verbringen. Grund genug, ihn kritisch zu be- trachten. Mein Blick bleibt an einem blauen Fleck auf seiner Wange haften. „Peiker-Willi“ stellt sich vor. Der blaue Fleck: das Merkmal der Gepeikerten, der Täto- wierten. „Dies Haupt gehört dem Henker“, steht blau im Genick. Willi hat Menschenkenntnis, „Du bist poli- tisch, wa?“ fragt er, und als ich schweige, sagt er: „Ick ooch!“ „Du?“ staune ich, und bereitwillig schildert Willi seine Straftat. „Stell da vor, Mensch, ick ha so 'ne Jüd’sche fertig- gemacht.“ Peiker-Willis Spezialität war Einmieten. Das heißt, mit meist falschen Papieren zog er bei alleinstehen- den Frauen in Untermiete, um bei der ersten besten Ge- legenheit mit allem Greifbaren zu verschwinden. Er hatte sich eine alte Jüdin ausgesucht, „eine ganz sichere Sache“, und als sie ihn auf frischer Tat ertappte, gab er ihr, wie es in seiner Sprache heißt, „eins übern Deez“. Ganoven- peck, daß die Gestapo die Jüdin beobachtete und Peiker- Willi beim Einpacken überraschte. Fünf Jahre kamen dabei heraus, denn „organisieren“ durfte man damals 5 nur mit NS-Genehmigung. Man schrieb erst 1936. Später wurden auch diese Angelegenheiten großzügiger gehand- habt. Willi war der Zeit etwas vorausgeeilt, Mit ihm muß ich also die Zelle teilen. Aber nicht lange; Willi wird befördert: Kalfaktor! Er ist das Leben hinter Zuchthausmauern gewöhnt. Sechsundzwanzig ist er, nur elf Jahre davon hat er in Freiheit verbracht. DIE KURZE VERNEHMUNG Als man mich im Növember 1936 zu einer „kurzen Vetnehmung“ nach dem Alex holte, wußte ich, daß es Jahre dauern würde. Sie war etwas kompliziert, meine Angelegenheit, einfach deshalb, weil ich für meine Frau einsprang und nicht wußte, wäs man ihr eigentlich zur Last legte. Ein Kumpel wär weich geworden und hatte nach vielen Folterungen eit'paar Namen genannt, meinen nur, weil er ‘meine jüdische Frau schonen wollte. Er hatte mich der Gestapo sozusagen als Ersatz übergeben. Ich riskierte es und ließimich nach einer Freistunde mit ihm in seiner Zelle einschließen. Unter Tränen zeigte er mir die Spuren der Fölterungen. „Du mußt mir ver- zeihen“, bettelte er. „Dazu ist jetzt keine Zeit, Walter, das mußt du später verantworten. Jetzt schnell; was hast du ausgesagt, damit ich weiß, was los ist. In abgerissenen Sätzen berichtete er. Keine Minute zu früh, schon war der ‚Irttuim“ bemerkt worden, Schnell „schmiß ich ‚die Fahne“, das Signal für den Wachtmeister. „Bin falsch. eingeschlossen worden, Herr Hauptwachtmeister.“ ‚Ein'‘paar Maulschellen, sein Fuß- tritt, und ich flog wieder in:meine Zelle. 6 Ein paar Stunden später legte ich ein Geständnis ab. Unterstützung von Eingekerkerten. Das, was ich zugab, wat Kleinkram im Vergleich zu dem, was ich wirklich getan ‘hatte: Unsere Betriebsgruppe bei Daimler-Benz, die Flugblätter an SA und Wehrmacht hätten mich den Kopf gekostet. 1939 hatte ich es überstanden. Die drei Jahre waren um. Aber ich machte mir keine Illusion und bereitete mich, wie viele Kameraden, auf das KZ vor. Doch als das breite Portal des Zuchthauses hinter mir zuschlug, stand ganz gegen ‚meine Erwartung keine Gestapo da, die mich zum Alex bringen wollte. Das geschah erst ein Jahr später. Auf den Tag genau ein. Jahr später. Der Gestapobeamte, der meinen Fall verpatzt hatte, der mich ein ganzes Jahr und noch dazu 7 ohne Verwarnung in der Nazi-Freiheit umherlaufen ließ, mag keine schlechte Zigarre bekommen haben. Nun hol- ten sie es nach. Jetzt funktionierte der Apparat: Betriebs- führer, Zellenleiter, Polizeirevier bekamen Befehl, mich genauestens zu beobachten. DER BLAUE SCHEIN Flattert mir 1940 eine Karte ins Haus, Absender: Wehrbezirkskommando! Ich soll mich zur Musterung einfinden! Das muß doch wohl ein Irrtum sein! Zucht- häusler — „Untermenschen“ in der stolzen Wehrmacht?! Das „Böhmische Brauhaus“ ist Musterungslokal. Ich kann keinen Feldwebel vom Schützen unterscheiden oder tue wenigstens so. „Hat denn das für mich überhaupt Zweck?“ frage ich den Auskunft erteilenden Posten und zeige ihm meinen Entlassungsschein aus dem Zuchthaus. „Los, rein!“ Hundert Mann, Jahrgang 1910 und 1911. Alles zu- künftige Helden, unter ihnen auch ich, der „Unter- mensch“. Ich stehe unter .der Meßlatte, als ein Unter- oflizier ziemlich aufgeregt hereinstürzt. „Wer ist hier der.B.?“ Ich melde mich. „Ziehn Sie sich sofott wieder an, und gehen Sie zum Oberschützen!“ „Verzeihung, sind Sie Herr Oberschütze?* Nicht ein- mal meine zivilen Manieren beanstandet er. „Um Him- mels willen, Mann, wie sind Sie denn hier hereingeraten? Warten Sie draußen, Sie werden aufgerufen,“ „Werkzeugmacher B., eintreten!“ brüllte es aus irgend- einem Zimmer. Nette Anrede übrigens, zum „Herrn“ reicht es nicht und „Zuchthäusler“ will man wohl auch nicht sagen. Ein Dutzend Figuren, Offiziere, starren mich 8 an. „Ireten Sie in.den Kreis, und nehmen Sie so etwas wie Haltung an!“ Ein kurzes Verhör beginnt. „Weswegen bestraft?“ „Vorbereitung zum Hochverrat.“ „Kommunist also.“ Aufmerksamkeit heischend, blickt der Herr Major in die Runde, seine Kollegen legen Bleistift und Brieföffner weg, nehmen im Sitzen Haltung an, Der Chef steht auf, kurz und militärisch knapp ‘verkündet er: „... ist für dauernd aus der deutschen Wehrmacht ausgeschlossen.“ Feierlich wird mir ein blauer Schein überreicht, „Weg- getreten!“ Beinahe hätte ich „Danke“ gesagt. So, das ist nun mein Wehrpaß. Ein nützliches Papier- chen. Neidisch sagen die Kollegen aus meiner Betriebs- gruppe: „Am liebsten würden wir dir det Ding ab- koofen.“ „Könnt ihr ganz umsonst haben“, lache ich, „wenn un- sere Gruppe auffliegt, ihr mit ein paar Jahren davon- kommt und Hitler immer noch dran ist.“ Es ist ein mittelgroßer Rüstungsbetrieb, in den man mich dienstverpflichtet hat. Anschluß an eine aktive Widerstandsgruppe habe ich noch nicht. Was ist zu tun? Mitrüsten? Das hieße mitschuldig werden. Bummeln und offen sabotieren, das geht auch nicht. Aber wo Ar- beiter sind, muß auch Widerstand sein, und wenn nicht, so muß man ihn organisieren. Ganz klein fange ich an. Zuerst mit ein paar Witzen, die nach und nach politisch werden. Ein paar Monate später sind wir fünf Kollegen, der Kern einer kleinen Betriebsgruppe. Natürlich schläft die Gestapo nicht. Einen Vorbestraften läßt man nicht aus den Augen. So finden sich auch bald ein paar „Ar- beitskameraden“, die trotz des Antreibersystems auf- 9 fallend viel Zeit haben, sich mit mir zu unterhalten. Aber so leicht gehe ich nicht auf den Leim, und sie ziehen recht ärgerlich ab. Auf die Dauer ist es schwer, den Rüstungsarbeiter zu spielen, namentlich, wenn man nachts das feindliche Aus- land hört. Eines Tages beim Betriebsappell wird der DAF-Bonze sehr deutlich. Verdammt noch mal, sie haben was gemerkt! Werden sie zuschlagen? Aber wir kennen den Spitzel und lullen ihn ein. Eine Kollegin aus dem Büro. berichtet: Die Gestapo hat angefragt. „Nichts Belastendes festzustellen.“ Ich bin noch einmal davongekommen. Vorsichtshalber werde ich durch einen neuen Gruppenleiter abgelöst ‘und kann vier Wochen ausspannen. DER STRICH UNTER DIE VERGANGENHEIT 1942.:Wieder bekomme ich eine Vorladung zur Muste- rung mit det ‚Aufforderung, den Ausschließungsschein mitzubringen... Man. mustert zweihundert Mann, etwa achtzig fürsdie:SS, der Rest sind Vorbestrafte. Bei den gewöhnlichen‘ Musterungen wird es sicher anders: her- gehen als bei,uns.; Zunächst ein freudiges Wiedersehen. „Servus, ;Kurt.“ „Ahoi, 'Baul.“ „Seit wann: bist du denn draußen?“ „Noch ‚nicht lange, Wär noch drei Jahre in Sachsen- hausen.“ Die SS-Leute machen ‚dumme Gesichter. Was ist denn das. für ein.komischer. Verein, wollen die etwa auch zur Wehrmacht? ‚Die K.v.-Mäschine läuft auf vollen Touren. Ade, blauer Schein. 10 „Bewährungsbataillon 9991’Zusammengesetzt aus krimi- nell und politisch Vorbestraften, soll den ehemaligen Verbrechern eine Gelegenheit geben, durch Bewährung vor dem Feind ihre Schande wiedergutzumachen“, heißt es in einem Befehl des Oberkommandos, den man uns auszugsweise vorliest. Ein V und ein dicker Strich darunter, das ist das Divisionszeichen. Wir übersetzen: „Strich unter die Vergangenheit!“ Manchmal sagen wir auch: „Verbrecher auf der ganzen Linie“ Den Herren Offizieren ist es lieber, wir sprechen vom „Strich unter die Vergangenheit“. Jawohl einen Strich sollen wit machen, Schluß mit dem, was war, die langen Jahre ver- gessen, die wir in unserem jungen Leben schon hinter Zuchthausmauern verbrachten. Sie aber vergessen nicht; jeden Tag lassen sie uns fühlen, daß wir, die Politischen, in ihren Augen Verbrecher sind. Die Kriminellen, die Diebe, die Räuber und Zuhälter, haben es gut. Sie zeigen sich auch gern erkenntlich. Der Nazikrieg, ein Verbrechen en gros, lockt mit all seinen Möglichkeiten zum gesetzlich geschützten Raub und Totschlag. AUF DEM HEUBERG Waldbestandene Bergkuppen, sanftgeschwungene Tä- ler, Felder und Wiesen, verstreut liegende Dörfer - das ist die Landschaft des Heubergs. Eine herrliche Gegend, und trotzdem; Tausendmal verflucht haben wir sie. Wieder sind wir Gefangene. Die gestreifte Uniform des Zuchthäuslers haben wir mit der des Zwangssoldaten vertauschen müssen. Vom Oberschützen bis zum General sind unsere Vorgesetzten ausgesuchte Scharfmacher. Sehr 11 schnell schließen sie Freundschaft mit den Kriminellen, mit den Gepeikerten. So seltsam es sich auch anhört: Ich muß mir manchmal Zwang antun, um nicht als guter Soldat aufzufallen. So geht es nicht nur mir. Warum? Wie oft war die Arbei- terschaft in der Weimarer Republik den bewaffneten Terrorgarden der Reichswehr, der Severing-Polizei, der. SA, des Stahlhelms schutzlos ausgeliefert! Wegen eines Taschenmessers konnten wir damals eingesperrt werden. Und jetzt haben wir Waffen, jetzt müssen wir sie tragen. Wennschon, dennschon, sagen wir uns. Wer weiß, ob wir sie nicht doch für uns werden gebrauchen können. Ob sie etwas ahnen, die Herren? Sie stellen fest: „Grüßen und Exerzieren noch etwas schlapp, beim Scharfschießen, bei der Waffenkunde und im Gelände aber sind die Politischen ausgezeichnet.“ Nun, wir vergessen nie, für wen wir lernen. Die Offiziere selbst sorgen dafür. Wenn unsere Frauen oft nach tage- langer Bahnfahrt vor dem Tore stehen, um ihre Männer nach jahrelanger Trennung wiederzusehen, heißt es: „Ausgang gibt es nicht, schickt eure Weiber nach Hause!“ „SEND SE VON DIESES?“ Anfang 1943. Die Räder rollen für den Sieg. Wir sind in Turnhout’in Belgien angekommen. Eine moderne, saubere Kaserne nimmt uns auf. Jetzt werden wir neugierig. Zum ersten Mal sind wir in einem frem- den, unterdrückten Land; wie wird sich die Bevölkerung uns gegenüber verhalten? ‘Wird sie nur deutsche Solda- ten in uns sehen, oder wird sie uns als Antifaschisten 12 .. erkennen. Schnell geben wir die Parole durch: Überall, wo sich eine Gelegenheit bietet, erzählen, wer wir sind. Das paßt den Kriminellen natürlich nicht in den Kram. „Das gibt bloß Scherereien mit den Mädchen.“ Der Kompaniebefehl läßt nicht auf sich warten: Jede Füh- lungnahme mit der Bevölkerung ist verboten. Aber die Bevölkerung hat, von einigen Faschisten ab- geschen, gar kein Bedürfnis nach einer Fühlungnahme mit deutschen Soldaten. Das beweist uns jeder Marsch durch die Stadt. Kurz nach unserer Ankunft bekom- men zwei Kameraden und ich den Befehl, das Gepäck des Obersten aus Antwerpen zu holen. Wir müssen mit der Straßenbahn fahren. Auf der Plattform stehen einige Arbeiter. Als wir zusteigen, bricht das Gespräch ab. Flämisch kann man als Deutscher sehr leicht verstehen. Ich sche einen Arbeiter rauchen und ziehe meine Ziga- retten hervor. Der Belgier folgt meinen Bewegungen, und während ich die Schachtel öffne, wirft er seine nur halbgerauchte Zigarette aus dem Fenster, um einem „Dütschmann“ kein Feuer geben zu müssen. Bravo, Kumpel, denke ich, und stecke die Schachtel wieder ein. Meine Kameraden haben die Szene beobachtet. Wir brin- gen das Gespräch auf unsere Vergangenheit, erzählen vom KZ und Zuchthaus, von belgischen Mithäftlingen. Das ändert sofort. die Situation, Freilich, ganz traut man uns noch nicht, zu unwahrscheinlich ist das Bild: Anti- faschisten in Wehrmachtuniform. Ich versuche es noch einmal mit der Zigarette. Da fahren die Hände gleich- zeitig in die Taschen, um mir Feuer zu geben. Vorsich- tig tastend, aber doch zielbewußt, entwickelt sich ein kleines Gespräch. Wir sind an die Richtigen geraten. 13 Den Erfolg spüren wir wenige Tage später beim Ein- kaufen. Erkundigten wir uns sonst nach einem begehr- ten Artikel, zuckten die Geschäftsleute bedauernd die Achseln. Sage ich jetzt aber: „Das ist sehr schade, ich hätte meinem Jungen gern eine Tafel Schokolade ge- schickt. Ich habe ihn so viele Jahre nicht gesehen“, da fragt der Ladeninhaber: „Send Se von dieses?“ und malt drei Neunen auf einen Zettel, Ja, wir „send. von dieses“ und erhalten, was wir. wollen. Die Kriminellen be- kommen sehr. schnell Wind davon, Doch wir finden einen Ausweg: Bald haben wir uns zu kleinen Gruppen zusammengefunden, die gemeinsam ausgehen, und fast jede dieser Gruppen hat Verbindung zu einem belgischen Werktätigen. Die Zügel werden etwas lockerer gelassen, sogar Stadtausgang gibt es. Eine willkommene Möglichkeit, Verbindung mit belgischen Antifaschisten aufzunehmen. „Der liebe Gott verläßt keinen guten Freidenker“, mir kommt der Zufall zu Hilfe. Wir haben Lokalkenntnisse erworben und versucht, irgendeine Wirtschaft ausfindig zu machen, in der Antifaschisten verkehren. „Till Ulen- spiegel.“ Ein kleines Caf6. Langsam kommen wit mit dem Wirt ins Gespräch, es scheint, wir sind auf der rech- ten Fährte. Allein, so leicht ist es nicht. Denn auch in Belgien arbeitet die Gestapo mit den verschlagensten Methoden; unser Wirt verstummt mit einem Male. Un- ser Versprechen, ihn wieder einmal zu besuchen, nimmt er äußerst zurückhaltend auf. Enttäuscht machen wir uns auf den Weg. In der Korte Begeyneii entdeckten wir'ein kleines Eis- cafe. Eine Gruppe Jugendlicher tanzt zu den Klängen eines Grammophons. Wir merken es deutlich: wir stö- 14 ren. Kaum daß man uns bedient, Das Grammophon wird abgestellt, und die Gäste ziehen sich in entferntere Räumlichkeiten des Lokals zurück. Schon wollen wir gehen, da öffnet sich die Tür. Im Caf& steht Franzi! Franzl, der als Fremdarbeiter in der Rüstungsbude seinen Ankleideschrank neben meinem hatte. Franzl, mit dem ich so manches gute Wort gewechselt, dem ich klarzumachen versucht hatte, daß er als Belgier die Pflicht habe, aus der Rüstungsindustrie zu türmen. Da- mals war Franzl noch nicht soweit gewesen, war mit vielen Wenn und Aber gekommen. Freudiges Erstaunen auf beiden Seiten. Die Welt ist klein! Schnell holt Franzl seine Portion Eis und zieht mich in eine Ecke. Dann fragt er in seinem unbeholfenen Deutsch: „Sind das deine Kameraden, und denken sie auch wie du? Wie kommst du. überhaupt als Zucht- häusler zu den Soldaten?“ „Immer langsam, Franzl, eins nach dem anderen. Ja, das sind meine Kameraden, sie denken wie ich, und Sol- dat bin ich geworden wie du Zwangsarbeiter.“ „Gewesen“, lacht Franzl, „mich kriegen sie nicht mehr. Wenn du für deine Kameraden bürgen kannst, dann kommt zu mir, ich hab ein gutes Radio.“ Da sitzen wir nun, vier deutsche Antifaschisten und zwei belgische Patrioten und hören Radio Moskau. Der Sprecher meldet: „Stalingrad befreit.“ Wir springen auf. Plötzlich ein Geräusch an der Tür, die Glocke schlägt an. Mit einem Satz bin ich am Apparat und schalte von Moskau auf Berlin um. Wir greifen nach unseren Pisto- len. Verrat? Franzl grinst. „Die steckt man weg, auf den, der jetzt kommt, schießt ihr nicht.“ Richtig, dieses Klingelzeichen hätte uns auffallen müssen: Kurz, kurz, 15 kurz, lang, die ersten Takte der Fünften Sinfonie von Beethoven, das Morsezeichen - Viktoria - Sieg! Herein kommt, 1,80 groß, die ganze Tür ausfüllend, ein Belgier. Franzis Frau, die ihm öffnete, hat ihn wahrscheinlich schon informiert. Trotzdem zögert er eine Sckunde lang, mustert uns, blickt prüfend und abwehrbereit auf unsere offenen Pistolentaschen. „Geht das in Ordnung, Franzi?“ „Geht in Ordnung!“ Es ist erstaunlich, wie schnell sich Antifaschisten in den schwierigsten Situationen ver- ständigen können, trotz des Spitzelunwesens. Schnell kommt ein Gespräch in Gang. Einigen Andeutungen Rends entnehmen wir, daß die Turnhouter Arbeiterschaft über eine Widerstandsgruppe verfügt und auch bereits Verbindungen zu unserer Einheit hat. Wie reagieren wir auf Stalingrad? Das ist die Frage, die schnell beantwortet werden muß; denn in einer Stunde ist Zapfenstreich, „Ein Flugblatt an die Soldaten müßte heraus“, meinen wit. „Was haltet ihr davon?“ Ren legt uns einen Flug- blattentwurf vor. Genau das wollen wir. „Aber dieses gute Deutsch muß doch ein Deutscher . geschrieben haben?“ „Ja“, lächelt Rene, „ihr seid nicht die einzigen, die in der Wehrmacht für den Frieden kämpfen. Ihr würdet vom Stuhl fallen, wenn ihr wüßtet, wer der Verfasser ist.“ „Laß mal, wir sind nicht neugierig. Aber jetzt zur Sache. Wie wollen wir es an den Mann bringen?“ „Jeder steckt sich hundert Stück ein, und heute nacht lassen wir es regnen“, sagt einer von uns. 16 „Falsch“, meint Rene, „das würde euch zu sehr ge- fährden. Es muß von außen kommen, und zwar in Ra- ten. Einmal fliegt es heute nacht über die Mauer, die nächste Sendung findet ihr morgen auf eurem Übungs- gelände. Ich muß nur wissen, wo heute nacht Wachen stehen und in welcher Gegend ihr morgen eure Übung abhaltet.“ Es ist gut, daß wir den Dienstplan im Kopf haben. Ein Kamerad ist Melder. Er kann auf den Meter genau angeben, wo am nächsten Tag die Übungen stattfinden sollen. Die Zeit drängt, leichten Herzens machen wir uns auf den Heimweg. Verflucht noch mal, es ist schwer, nicht hinauszu- schreien: „Stalingrad befreit!“ Ganz können wir es nicht für uns behalten, und so bringen wir, wo irgend möglich, das Gespräch auf Stalingrad. „Was zerbrecht ihr euch den Kopf?“ meinen die Stammannschaften, „der Führer hat gesagt, daß wir Sta- lingrad nehmen, also nehmen wir es.“ „Besten Dank, wir waren schon etwas unruhig.“ Am nächsten Morgen stand im Wachbuch eine Mel- dung: „Feindliche Flugblätter über angebliche Kapitu- lation von Stalingrad durch Feindflugzeuge im Kasernen- bereich abgeworfen.“ Voller Spannung ziehen wir zur Feldübung. Wird es klappen? Nur auf den Kompaniegefechtsständen, wo sich aus- schließlich Offiziere aufhalten, finden sich keine Flug- blätter. Aber in jedem Schützenloch, in jedem Lauf- graben, in jeder Ausweichstellung liegt ein Blatt, fein säuberlich mit einem Stein beschwert: „Stalingrad be- freit“ 2 3367 17 Die Soldaten, besonders die Kriminellen, sind in der Klemme. Sie überlegen: Was tun, das Feindmaterial sofort abliefern? Dann müßten sie ihren Posten ver- lassen. Doch dazu liegt kein Befehl vor. Unschlüssig und unruhig stehen sie die nächsten zwanzig Minuten herum. Dann kommt das Signal: „Alles sammeln, Übung abbrechen! Antreten! Wer Feindmaterial gefunden hat, sofort abliefern.“ Kurze Ansprache des Chefs: „Es gibt zwar sehr blöde Hunde unter euch, aber ich glaube nicht, daß ihr so dußlig seid und diesen Schwindel glaubt...“ Rückmarsch in die Kaserne! Wir haben den Eindruck, als betrachte uns die Bevölkerung heute mit anderen Augen. Tatsächlich! Auch der Chef scheint unseren Ein- druck zu teilen. „Wie die Bande grinst, reinpfefern müßte man!“ Und dann brüllt er: „Ein Lied!“ Und wir singen, ganz laut und diesmal fast mit Schwung. „Immer wenn Soldaten singen, freuen sich die Mägdelein.“ AUF DER RITTERBURG Die Schlacht von Stalingrad endete mit einem deut- schen Volkstrauertag. Wir sollen über Frankreich und -Italien nach Tripolis. Es herrschen unter uns verschis- dene Meinungen über die jetzigen Aufgaben eines Anti- faschisten. Über eins jedoch sind wir uns klar: Auch dem afrikanischen Abenteuer läuten schon die Totenglocken. Die Kameraden, die den Versprechungen der Anglo- ‚Amerikaner Glauben schenken, meinen: nichts wie Über- laufen, um in Gefangenschaft antifaschistische Aufklä- rungsarbeit unter den Landsern zu leisten. Ja, man er- zählt etwas von Druckereien, von Bibliotheken und 18 Studienmöglichkeiten, die in Amerika dem politischen 999er zur Verfügung stehen sollen. Ihr werdet enttäuscht werden! Es wäre das erste Mal in der Geschichte, daß Imperialisten die politische Arbeit der Antifaschisten erlauben. Ich habe Glück, bekomme eine ganz harmlose Krätze! Ein Mediziner gab mir die nötigen Tips. Kriegslazarett in Nimes: „Ritterburg“, Station für Haut- und Ge schlechtskrankheiten. Das Lazarett war vor dem Krieg ein Altersheim. Jetzt sind die alten Leute heimatlos, nur wenige wurden in nahegelegenen Baracken untergebracht. (Die nicht als Juden in den Todeslagern endeten.) Groß ist der Hun- ger im ausgeplünderten Frankreich, so groß, daß sogar die Landser Kohldampf schieben, Die alten Leute aber, meist auf sich selbst angewiesen, sind am Verhungern. Auf Schritt und Tritt begegnet man in der Stadt alten Frauen, die Kehrichthaufen nach Eßbarem düurchwühlen. Die zu schwach sind, den weiten Weg zur Stadt zu machen, kommen in die Küchen des Lazaretts. So kommt auch zu uns jeden Tag ein etwa siebzigjähriges Mütterchen. Geduldig wartet sie im Flur, bis die Essen- ausgabe vorbei ist. Aus dem Abfallkübel sucht sie sich dann heraus, was wir als ungenießbat weggeworfen haben. Es war immer gut gegangen, und mancher Sol- dat hat ihr heimlich etwas zugesteckt. Feldwebel Darms aus Essen ist schon das dritte Mal auf der „Ritterburg“. Er ist Familienvater. Heute kommt er etwas zu spät in den Speisesaal. Die alte Frau hat sich aus dem Abfallkübel mehrere Handvoll Kar- toffeln geklaubt. Glücklich will sie sich mit ihrem Fund von dannen machen, da entdeckt sie der Feldwebel: ” 19 „Du alte Hure bist ja schon wieder hier, schmeiß die Kartoffeln wieder rein!“ Verwirrt und verständnislos sieht sie ihn an. „Retour, retour!“ schreit er und zeigt auf die Tonne. „Nein, bitte, nein“, stammelt das Mütterchen. Das ist dem Feldwebel zuviel. Ein Schlag! Die Kartoffeln fallen zu Boden. Als sich das Mütterchen danach bückt, schlägt er zum zweiten Mal zu, und die alte Frau bleibt am Boden liegen. Feldwebel Darms betritt den Speise- saal, als sei nichts geschehen. „Feindlicher Proviantspäh- trupp abgewehrt“, brüllt ein Landser. Dröhnendes Ge- lächter, doch nicht alle lachen. Ob sie daran denken, daß auch sie eine Mutter haben? Ein Sanitäter und ich gehen hinaus und helfen der alten Frau auf. Als sie uns gerührt dankt, schäme ich mich doppelt. Zwei Tage später bekommt Feldwebel Darms ein Telegramm: „Frau und Kinder feindlichem Terrorangriff zum Opfer ge- fallen.“ Er bricht zusammen und weint. EXPLOSION Lange kann ich mich im Lazarett nicht halten. Schließ- lich trifft der Marschbefehl zum Heuberg ein. Natürlich darf ich diese weite Reise nicht allein antreten, ein Ober- gefreiter begleitet mich. Auf dem Heuberg gelte ich nun schon als ausgebildeter Soldat. Afrika kostet Menschen. In der Sowjetunion will man uns nicht einsetzen, also Nachschub für das Rommel-Abenteuer. Dreißig Mann werden ausgesucht: Marschbefehl nach Italien. Welch großes Vertrauen! Zum ersten Mal dürfen wir uns ohne Stammpersonal in Marsch setzen. Ein Krimineller führt die Aufsicht. In Neapel werden wir ihn los. 20 Man verteilt uns auf verschiedene Einheiten. Ich komme nach Cancanella und treffe dort zwanzig Mann aus meiner alten Kompanie unter Führung des Stabsfeldwebels Bunzel. Stabsfeldwebel Bunzel ist eine Ausnahme, er hat seine sozialistische Kinderstube noch nicht ganz vergessen. „Der Mann kommt zu mir“, ver- fügt er, und nach einer Woche Kasernendienst werde ich der Feldpost zugeteilt. Zur Abwechslung bin ich also ein- mal Postbeamter. Ein bequemes Leben. Morgens geht es ins Büro, bei einer Flasche Chianti werden ein paar Briefe sortiert, und abends wird ein Bummel durch die Via Roma gemacht. In Neapel ist es schwer, Anschluß an die Widerstands- bewegung zu finden. Mir jedenfalls gelingt es nicht. Im Hafen liegt ein 40 000-Tonnen-Transporter, beladen mit T-Minen und ungeheuren Mengen Artilleriemunition. Es besteht wenig Hoffnung, daß er drüben in Afrika heil eintrifft. Was tun die Nazis? Sie tarnen ihn als Ver- wundetentransporter. Riesengroß prangt auf dem Deck das Rote Kreuz. Das Meer ist vermint. 999er sollen als nützlicher Ballast mitgenommen werden. Unser Gepä ist schon an Bord; wir schen der bevorstehenden Über- fahrt mit gemischten Gefühlen entgegen. Noch einmal bummeln wir durch die Stadt. Plötzlich Alarm!!! „So- fort zum Hafen, Gepäck herunterholen, das Schiff brennt!“ Eine halbe Stunde wird entladen, während- dessen versucht man, den Brand zu löschen. Umsonst! Erneuter Alarm: „Das Schiff verlassen und die Um- gebung im 2-km-Umktreis sofort räumen!“ Neben dem qualmenden Vesuv sehen wir am Nachthimmel die Um- risse des brennenden Schiffes. Die Alarmbereitschaft bleibt bestehen. Absperrtrupps erweitern die Bannmeile. 21 Morgens erschüttert eine furchtbare Explosion ganz Nea- pel. Der riesige Anker des Schiffes liegt mitten in der Stadt. Das ganze Hafengebiet ist zerstört. Was wäre geschehen, hätte der Engländer vom Mißbrauch des Roten Kreuzes erfahren und das Schiff auf hoher See bombardiert? Wir wären alle zum Teufel gegangen. Die italienische Widerstandsbewegung, die den Brand auf dem Transporter anlegte, hat uns das Leben gerettet. Also auch im faschistischen Italien Widerstand, auch hier Kameraden. AUSGEROMMELT! Mit Riesenschritten nähert sich das Ende in Afrika. Auch hier versucht die Wehrmachtsführung, die letzte Entscheidung hinauszuschieben. In erster Linie sind es die 999er, die man in die Bresche wirft. Die Schiffs- wege sind uhpassierbar geworden, also werden die gro- ßen Transportmaschinen Ju 75 mit Menschenfracht be- laden. In gtoßen Verbänden überqueren sie das Meer. Nur wenige Flugzeuge erreichen das Ziel. Zu Dutzenden werden die langsamen Maschinen abgeschossen, zu Tau- senden ertrinken die Landser, eingesperrt wie Ratten. "Was macht: es? Gibt es eine bessere Methode, „Unter- menschen“ zu beseitigen? Dann hat es sich in Afrika ausgerommelt. Einige tuhige Wochen folgen. Ja, man geht sogar dazu über, 999er-Einheiten regulären Truppenverbänden zuzutei- len. Bald stellen viele Landser fest: „Ich hätte nie ge- dacht, daß diese Zuchthäusler, diese ehemaligen Mar- xisten so anständige Kerle sind.“ Und eines Tages meldet Radio London: „Politisch Vorbestrafte in Wehr- 22 machtuniform in Italien.“ Es regnet Flugblätter über Neapel: „Neapolitaner! Wißt Ihr, daß in Euern Mauern in der Uniform der Wehrmacht: sich chemalige Zucht- häusler, Mörder und Diebe aufhalten?“ Da schaltet sich der Papst ein und protestiert gegen unsere ‚Anwesenheit. Kurz darauf werden alle 999er abgelöst, ‘es geht „heim ins Reich“! DIE HEIMAT HAT UNS WIEDER Mit zweihundert Mann, die um den „Heldentod“ in Afrika herumgekommen sind, treffe ich im Mai 1943 auf dem Heuberg ein. Jetzt ähnelt er. noch mehr einem KZ. Preßte man 1942 noch überwiegend entlassene Häftlinge zu den 999ern, so ist man jetzt dazu übergegangen, die Zwangssoldaten direkt aus Zuchthäusern und Konzen- trationslagern zu holen. In gestreifter Kleidung, mit tasiertem Schädel, kommen sie an, um diese Uniform mit dem „Ehrenkleid des Führers“ zu vertauschen. Auch die Ausbilder sind längst nicht mehr so ausgesuchte Scharfmacher. Einmal sind nicht alle Faschisten, zum anderen ist ihr militärisches Können oft recht mangelhaft. Beides kann uns recht sein. Wir werden Hilfsausbilder. Hätte uns noch vor einigen Jahren jemand gesagt, wir würden nicht nur Waffen tragen, sondern sogar komman- dieren, wir hätten ihn für verrückt erklärt. Manchmal spielt sich folgendes ab: Irgendein Unter- offizier weiß in. der Instruktionsstunde nicht recht Be- scheid. Er zeigt mit dem Finger auf einen von uns: „Sie da, vortreten, erklären Sie das Vorgehen in geöff- neter Ordnung.“ Der Betreffende erklärt es, und mit etwas Geschick kann er abweichen und das Thema auf 23 andere Fragen lenken. Es ist nicht immer im Sinne der Heeresdienstvorschrift, was dann vorgebracht wird. Be- tritt plötzlich ein Offizier die Stube, heißt es geistes- gegenwärtig sein und die eingelernten Sprüche herunter rasseln. „Gut der Mann, weitermachen.“ ES GIBT MENSCHEN UNTER DEN LEUTEN! Es mag Antifaschisten unter uns gegeben haben, die vergessen wollten, daß sie die Pflicht hatten zu kämpfen, die bestrebt waren, nur Soldat zu sein und allem aus- zuweichen, was an Aufgaben vor uns stand. Ein anstän- diger Mensch konnte das nicht, denn jede Stunde zeigte uns, woran wir waren. Wer einschlafen wollte, den weckten die Schüsse der Hinrichtungskommandos. Fast jeden Tag müssen Kameraden ihr Leben am Pfahl lassen, in der Mehrzahl „Fahnenflüchtige“, fast nur Kriminelle, vorwiegend junge Menschen, die für ein Vergehen, das ein demokratischer Staat mit ein paar Wochen Gefängnis geahndet hätte, auf Jahre ins Zucht- haus geschickt worden waren. Zur Flucht ist trotz des Stacheldrahts jeden Tag Gelegenheit. Wer länger als vierundzwangzig Stunden flüchtig ist, endet am Pfahl, wenn ‘er. gefaßt wird. Viele Angehörige religiöser Sekten, die sich weigern, den Eid auf Hitler zu leisten, müssen den Weg zum Schießstand gehen. Bei jeder Etschießung werden einige Kompanien zum Zuschauen abkommandiert. Nur von einem bleiben wir. ver- schont, wir brauchen unsere Gewehre nicht auf die Kameraden abzudrücken, das überläßt man den Stamm- 24 2 mannschaften. Übrigens, die Berufsverbrecher denken gar nicht daran, fahnenflüchtig zu werden. Sie fühlen sich pudelwohl, bekommen sie doch bald irgendeine Funktion und bereiten sich mit der Stammannschaft auf das „planmäßige Organisieren“ in Feindesland vor. Zwar geht manchmal etwas schief, und einer, der es zu toll treibt, wandert in den Bau, aber dann melden sich die Herren Unteroffiziere und Feldwebel plötzlich freiwillig für die Arrestwache, um. durch kleine Gefälligkeiten ihrem Kumpan das Maul zu stopfen. Ich habe mich mit Werner, einem zuverlässigen Kame- taden, angefreundet; wir wissen es so einzurichten, daß wir dem gleichen Zug als Hilfsausbilder zugeteilt werden. Ein frischer Z-Transport ist eingetroffen. Die Neuen sind so verelendet und verhungert wie kaum andere Ankömmlinge zuvor. Wir tun, was in unseren Kräften steht, um zumindest den Antifaschisten unter ihnen das Leben zu erleichtern. Zuerst einmal müssen sie heraus- gefuttert werden. Wir lassen unsere Verbindungen spie- 25 len, und mit Hilfe der Außenarbeiter in der Bäckerei und im Verpflegungslager können wir manches Stück Brot für die ausgehungerten Freunde besorgen. Bei dieser Gelegenheit sollen die Bauern aus der Umgebung nicht unerwähnt bleiben. Viele von ihnen hielten ein Mittag- essen, oft auch ein Stück Speck für uns bereit. Liebe Familie K. aus Frohnstetten! Euer Haus stand jedem Antifaschisten offen. Wieviel Gutes habt ihr für unsere hungernden Kameraden getan! Dutzende von Frauen habt ihr beherbergt und ihnen eine Gelegenheit gegeben, wenigstens auf Stunden mit ihren Männern zusammen zu sein. Oft wußtet ihr, daß die Ausgangserlaubnis ge- fälscht war, und in jedem Fall wußtet ihr, was euch drohte, wenn man erfuhr, daß ihr menschlich gehandelt habt. Vernehmt an dieser Stelle noch einmal den Dank eines Antifaschisten. DAS GROSSE EXPERIMENT Im Oktober 1943 ist es soweit: Vier Bataillone unter Führung des Obersten Wolf stehen bereit. Wohin wird es gehen? Die von allen erwartete „zweite Front“ läßt auf sich warten, und daß man uns im Osten einsetzt, glauben wir nicht. Also wohin? Zum Balkatı, wird ge- munkelt. Und wirklich, nach wochenlanger Fahrt landen wir in Athen. Doch schon acht Tage später heißt es: „Einsteigen!“ Zurück rollt der Zug, durch ‚Jugoslawien und Bulgarien, wohin? Etwa doch nach'idem Osten? Fieberhaft versuchen wir, unser Ziel zu erfahren. Nie- mand weiß etwas. An einer größeren Station erhalten wir endlich Gewißheit. Wir fassen Wintersachen. Es 26 “ erfolgt Kompaniebelehrung. „Die Stunde der Bewäh- rung hat nun auch für euch geschlagen. Ihr kommt zum satz gegen die Russen.“ Die Stammannschaften lassen die Köpfe hängen: Mit den 999ern nach Rußland? Das bedeutet, wir sind abgeschrieben. Wie groß müssen die Verluste sein, daß man jetzt Antifaschisten gegen die Sowjetunion einsetzt. Die Stim- mung schlägt um. Mit aller Gewalt versuchen gerade die Nazis, sich gut mit uns zu stellen. Haben sie Angst vor Rückenschüssen? Sie kennen nur ihre Methoden. Weiter rollt der Zug. Partisanengebiet! Links und rechts verwüstete Dörfer, auf Minen gelaufene Züge. Wir müssen Posten stehen, haben strenge Anweisung erhalten, auf jeden „Banditen“ zu schießen. In Cherson werden wir endlich ausgeladen. Riesige Getreidesilos zeichnen sich am dunklen Nachthimmel ab. Von hier aus werden die unendlichen Schätze der Ukraine nach Deutschland verfrachtet. Ein deutscher Eisenbahner er- zählt uns: „Siebzig Waggons mit Getreide verlassen Tag für Tag, seit fast drei Jahren, Cherson. Aber die Parti- sanen machen uns schwer zu schaffen. Und je mehr wir aufhängen, desto mehr Minen legen sie. Aber mit den Russen geht es zu Ende, sie setzen schon Sträflinge ein“, seine Stimme klingt erleichtert. „Ob sie uns nicht auch noch dazu zwingen werden?“ frage ich. „Niemals“, beteuert er, „des Führers Rock tragen nur gute Deutsche.“ „So, na dann können wir ihn ja ausziehen“, lache ich, „denn wir sind vorbestrafte Hochverräter.“ Mit ver- dutztem Gesicht sicht er uns nach. 27 Eine endlose Autokolonne fährt vor. Sie bringt uns nach Berislaw. Silvester 1943. Zwei Kilometer vor Berislaw stoppen die Wagen. Feindeinsicht! 500 + 999 Wir sollen Stellung am Ufer des Dnepr bezichen. Das Grabensystem, das sich durch ein zerstörtes Dorf zieht, mußte die russische Bevölkerung anlegen. Wir lösen eine 500er-Einheit ab. Die 500er sind Soldaten, die sich militärische Ver- fehlungen haben zuschulden kommen lassen. Unter ihnen befinden sich viele ehemalige Feldwebel und Unteroffi- ziere, ja sogar höhere Dienstgrade. Brutalitäten, vor denen der reguläre Soldat zurückschreckt, gehören bei manchen 500ern zur „Bewährung“. Der Troß dieser Einheit macht den Eindruck einer Händlerkarawane. Vieh ist an die Wagen gebunden, Tische, Betten, Bilder und Sessel türmen sich auf ihnen. Jede Gruppe, jeder Unterstand hat sein eigenes Waren- lager, und am besten ausgebaut ist die Kochanlage. Die 500er sind recht ärgerlich, daß jetzt das ruhige Bunker- leben ein Ende hat. „Mit Munition schleppen wir uns nicht allzuviel herum“, maulen sie. „Heute abend machen wir noch mal ein Feuerwerk. Wir werden dem Iwan Sil- vester schon versalzen.“ „Ihr habt einen riesigen Massel“, sagt einer zu uns. „Wenn ihr ruhig seid, kümmert sich der Iwan. über- haupt nicht um euch. Hier lebt es sich nicht schlecht, es gibt noch ’ne ganze Menge zu organisieren, ihr müßt der Bande nur mit der Pistole vor der Nase rumfuchteln, mal ab und zu jemand umlegen, dann rücken sie das Zeug schon raus, das sie versteckt haben.“ 28 EIN SILVESTERGRUSS Es ist zehn Minuten vor zwölf. Ein neues Jahr soll beginnen. Da kracht es los in den Stellungen, die 500er halten Wort. Unser Feldwebel holt eine Flasche Wodka: „Trinken wir auf ein neues Jahr.“ Gott sei Dank! Schefl- ler redet nicht vom Endsieg. Auf ein neues, auf ein wirklich neues Jahr können wir trinken. Auch mit dem Feldwebel. Er ist sowieso nicht der Schlechteste. Zwölf Uhr! Er setzt die Flasche an, aber zum Trinken kommt er nicht. Ein gewaltiges Getöse ist plötzlich um uns herum, ohne daß ein Abschuß zu hören war. ‚Die Stalin- Orgel spielt auf. „Volle Deckung!“ Unser Feldwebel liege irgendwo im Graben. Die Flasche hat er uns ge- lassen. Zwischen den Einschlägen trinken wir einen großen Schluck auf den Frieden! Das neue Jahr beginnt in der Stellung. Der Dnepr ist die Trennungslinie. An der schmalsten Stelle sind wir nur dreihundert Meter von den sowjetischen Truppen entfernt. Der Abschnitt ist sehr ruhig. Nur selten fällt ein Schuß. Das paßt unserem Kommandeur nicht, und er gibt Befehl, das andere Ufer bei der geringsten Be- wegung unter Feuer zu nehmen. Bis zu unserem Eintreffen gab es ein „Gentleman Agreement“: Auf beiden Seiten blieben die Wasserholer unbehelligt. Auch das gefällt unseren Offizieren nicht. Ein Oberleutnant legt sich selbst auf die Lauer, und als sich sowjetische Soldaten wie üblich zum Dnepr begeben, schießt er einen nieder. Die waffenlosen Rotarmisten gehen erschrocken in Deckung. Der Getroffene schreit. Seine Kameraden wollen ihm zu Hilfe eilen und schwen- ken ein weißes Tuch. Auch sie nimmt der Oberleutnant 29 unter Feuer. Zwei Minuten lang hören wir nichts als die Hilfeschreie des verwundeten sowjetischen Soldaten. Dann aber setzt ein Feuerüberfall ein, wie wir ihn noch nicht erlebt haben. Eine Stunde lang wird unsere Stel- lung aus allen Kalibern beschossen. Wir haben zwei Tote und vierzehn Verwundete. Wenn sich eine Nasen- spitze zeigt, knallen die Gewehre der sowjetischen Scharf- schützen. Wasser holen können wir nun nur noch nachts und unter größten Schwierigkeiten. DIE STIMME DER FRONT Die Verpflegung wird von Tag zu Tag schlechter. Wir forschen nach der Ursache. Beim Umladen in Cherson und vor Berislaw sind kistenweise Lebensmittel und Marketenderwaren gestohlen worden, erfahren wir. „Be+ dankt euch bei euren eigenen Kameraden“, werden wir belehrt. „Die haben das Zeug geklaut und verschoben.“ Wir sind drauf und dran, es zu glauben, wissen wir doch aus hundert eigenen Erlebnissen, wozu die Peiker-Willis fähig sind. Verdächtig bleibt nur, daß das Stamm- personal so oft Besprechungen abhält und ‘von diesen recht lustig und nach Schnaps riechend zurückkehrt, Vom „Feind“ sollten wir die Wahrheit erfahren. Es ist zweiundzwanzig Uhr. Ich stehe‘ Posten. Vom anderen Ufer ertönt eine laute Stimme: „Achtung, Kame- raden vom Bataillon 999! Hier spricht die Stimme der Front! Wir grüßen die politisch Vorbestraften unter euch. Wir hoffen, daß ihr euch eurer Aufgabe’ bewußt seid. Wir haben eine interessante Mitteilung. Euch hat man erzählt, daß eure Verpflegung gestohlen worden sei. 30 Fragt mal euren Hauptmann Kuschke, was in den Kisten drin ist, die er jeden zweiten Tag nach Königsberg schickt. Darin sind eure Zigaretten und eure Lebens- mittel. Fragt eure Offiziere und Unterofliziere, wo sie die Dinge herhaben, die sie bei ihren Gelagen ver- prassen.“ Das schlägt wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Sogar die Peiker-Willis meutern. Wird man die Schuldigen zur Verantwortung ziehen? Alarmbereitschaft! Sämtliche Posten ablösen. Befehl: „Bei jeder Feindpröpaganda die Ausgangsstelle sofort mit allen Waffen unter Beschuß nehmen.“ Der Sprecher auf der anderen Seite sitzt im sicheren Bunker, und den Lautsprecher in der Dunkelheit zu treffen, das ist aussichtslos. Nur eins will man mit der Knallerei erreichen: Die Wahrheit soll in dem Radau untergehen. Wie war die Rote Armee in den Besitz dieser Nach- richt gekommen? Sonja, eine ehemalige Angestellte des Stadtsowjets, war zur Bedienung des Stabes herange- zogen worden. Sprach man sie auf deutsch an, so zuckte sie nur bedauernd die Achseln. „Nix verstehen.“ Aber als später der letzte Soldat Berislaw verließ, rief Sonja aus sicherer Entfernung in flüssigem Deutsch: „Ich komme euch in Berlin einmal besuchen.“ Sonja war als Partisanin zurückgeblieben und hatte durch Blinkzeichen das andere Ufer verständigt. — „Für diese gemeine Bande von Offizieren und Unter- offizieren sollen wir unsere Haut zu Markte tragen“, schreien die Kriminellen und auch einige von der Stamm- mannschaft. Am 20. Januar verschwinden fünf Kame- raden, die Besatzung eines Bunkers, verschwinden unter Mitnahme ihres Feldwebels. 31 IM TODESKELLER Werner und ich sind von einem Meldegang zurück- gekehrt, der Oberleutnant betritt unseren Bunker. „Ich habe hier etwas zu besprechen, gehen Sie solange raus.“ Wir nehmen Kanister und holen Wasser. Als wir zu- rückkehren, macht unser Feldwebel einen niedergeschla- genen Eindruck. „Also, ihr beiden seid nun schon über ein Jahr Soldat. Ihr sollt jetzt endgültig wehrwürdig werden. Vorher aber sollt ihr noch eine Bewährungs- probe ablegen. Unteroffizier Biener wird euch nach vorn bringen. Na, auf alle Fälle, viel Soldatenglück!“ Was hat er nur? Er kann uns gar nicht ansehen, und jetzt fährt er sich sogar über die Augen. Das muß ja ein kitzliger Auftrag sein. Himmelfahrtskommando? Wir machen uns fertig. „Waffen braucht ihr nicht mit- zunehmen, die bekommt ihr dort.“ Uns ist unheimlich zumute. Auch der Unteroffizier packt seinen Affen und stellt das Gewehr in die Bunker- ecke. Daß er sich heimlich Pistole und Handgranaten einsteckt, sehen wir nicht. „Also, nochmals viel Soldaten- glück, Jungs“, und raus ist unser Feldwebel. Jetzt sind wir mißtrauisch. Unbemerkt greife ich eine Hand- granate. Was haben sie mit uns vor? Wir verlassen unseren Bunker und gehen durch die schweigende Nacht nach Berislaw. Unterwegs begegnet uns noch ein Trupp von vier Mann, ebenfalls ohne Waffen und in Beglei- tung eines Stammanns, „Was ist los, Kameraden?“ „Keine Ahnung, wir sollen zum Sondereinsatz.“ „Seid ihr politisch?“ „Ja, alle vier.“ 32 Jetzt ahnen wir etwas. An einer Brücke wartet ein großer Trupp, schweigend, eskortiert von Stammann- schaften, die alle Maschinenpistolen im Arm halten. „Ruhe im Glied, ohne Tritt, marsch!“ Links und rechts vom Zug die Stammannschaften, die Maschinenpistolen schußfertig auf uns gerichtet. Eine böse Falle! Der Bataillonsgefechtsstand ist erreicht. Wir betreten den Hof des früheren Kulturhauses, den jetzigen Sitz des Sicherheitsdienstes. Im Licht der Taschenlampen blitzen uns die Schilder der „Kettenhunde“ entgegen. Feldpolizei und SS brüllen: „Hände hoch, ihr Schweine!“ Gewehrläufe richten sich auf uns. Sie schlagen mit Ge- wehrkolben auf uns ein. „Von euch Schweinen sieht keiner wieder die Sonne aufgehen. An die Wand, marsch, marsch!“ Man reißt uns das Gepäck herunter, visitiert unsere Taschen. Ich lasse meine Handgranate im Ärmel verschwinden. Wir stehen an der Mauer, vor uns ein schußbereites Maschinengewehr. Wir stehen zwei Stunden. Immer neue Trupps treffen ein. Die SS bildet eine Kette. Durch diese Kette werden wir in einen dunklen, feuchten Keller geprügelt. Hundertsechsundzwanzig Mann. Wir stehen darin so dicht, daß sich keiner setzen, geschweige denn hinlegen kann. Ein Kamerad zündet ein Feuerzeug an. Da brüllt es von oben durch das vergitterte Fenster: „Licht aus, ihr Schweine, ihr könnt wohl nicht abwarten, bis wir euch ordentlich umlegen? Noch mal, und wir schmeißen euch Handgranaten rein.“ Hundertsechsundzwanzig Politische warten auf den Tod. Nicht einer wurde schwach, 3 33 Noch mehreren Kameraden ist es gelungen, Eier- handgranaten durchzuschmuggeln. Man wird uns nicht alle gemeinsam holen, mutmaßen wir, vielleicht in Trupps zu zehn Mann. Unsere Handgranaten reichen aus: je eine auf zehn Mann; soviel wir können, nehmen wir von denen da oben mit in den Tod. Unendlich lang- sam schleichen die Minuten. Es wird allmählich hell. Noch immer rührt sich nichts. Zweieinhalb Tage stehen wir in diesem Keller - Mann an Mann. Schulter an Schulter, kaum daß wir unsere Notdurft verrichten können. Nach sechzig Stunden geht die Tür auf. „Laut Namens- aufruf heraustreten.“ Einige Sekunden vergehen. Ich weiß, daß ich einer der ersten sein werde. Schnell raune ich den Kameraden zu: „Bleibt noch etwas zurück, wenn ich glaube, daß keine Gefahr droht, niese ich. Wenn nicht, wißt ihr Bescheid. Wenn ihr Schüsse hört oder meine Handgranate, versucht einen gewaltsamen Aus- bruch.“ Man brüllt meinen Namen. Als zweiter taumele ich ans Licht. Was ist das? Sol- daten mit umgehängten Karabinern, nur etwa ein Zug. Das sieht nicht nach Erschießung aus. Ich niese laut. „Gesundheit, Kamerad“, ulkt ein Landser, Wenn er wüßte, mit welcher Erleichterung dieses Niesen im Todeskeller aufgenommen wird! Viele Kameraden können vor Erschöpfung nicht ein- mal die wenigen Schritte gehen. Wir dürfen sie heraus- tragen, und sie bekommen Erlaubnis, sich im Hof zu setzen. „Alles antreten, Achtung! Richt euch, abzählen!“ Soll nut jeder dritte an die Wand? Wir tasten nach unseren Handgranaten. Der Hauptmann kommt. „Still- gestanden, die Augen links!“ 34 „Morgen, Leute“, grüßt der Hauptmann, als wäre nichts, aber auch gar nichts vorgefallen. Dann folgt eine kurze Ansprache. Es hätte schr ernst um uns gestanden. Wegen der Überläufer sollten zuerst alle erschossen werden, in letzter Minute sei jedoch ein Telegramm vom OKH ge- kommen. „Noch einmal wird euch Gelegenheit zur Be- währung gegeben. Ihr werdet zu Schanzarbeiten hinter der Front eingesetzt und bei entsprechender Bewährung wieder zur Truppe zurückgeholt.“ Bewährung? Bei schwerster körperlicher Arbeit wollen sie'uns verrecken lassen. SO MACHT MAN QUARTIER Wieder verlädt man uns auf Autos. Nach vierzig Kilometer Fahrt werden wir abgesetzt: Unsere Be- wachung besteht aus einem Kommando meist älterer Leute. Es sind sehr viele darunter, die nicht nur die Schnauze voll: haben, sondern die es sich auch anmerken lassen. Der Kompaniechef aber, ein chemaliger Pfarrer, ist der Teufel in Person. Alles, was unsere Lage erleich- tern könnte, wird verboten. Jeder Versuch einer Ver- ständigung zwischen der Wachmannschaft und uns wird durch schärfste Maßnahmen geahndet. In einem halb- zerstörten Dorf beziehen wir Quartier. Zu sechsund- zwanzig Mann liegen wir auf einer dünnen Strohschütte in einer Ruine. Wir dürfen sie nur zur Arbeit verlassen. Unsere Arbeit: Stellungsbau. Von morgens fünf Uhr bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Wachmannschaft erhält Anweisung, größtmögliche Arbeitsleistung von uns zu verlangen. Unsere Verpflegung: ein Liter Wasser- Eu 35 suppe und ein Stück Brot. Die Verpflegung muß uns sogar ins Quartier gebracht werden, einmal, weil wir die Straße allein nicht betreten dürfen, und zum anderen, weil wir nach der Rückkehr von der Arbeit so entkräftet sind, daß wir wie tot umfallen. Nach einigen Tagen bilden wir ein Aktiv, das sich die Aufgabe stellt, die vor dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch stehenden Kameraden aufzurütteln. „ Es ist notwendig, denn unser Leben ist hart. Hart selbst für Zuchthäusler und Konzentrationäre. Um fünf Uhr Aufstehen, abmarschbereit in einer Viertelstunde, acht, zehn, ja zwölf Kilometer Anmarsch bis zur Arbeits- stelle, über .tiefverschneite Straßen, wo jeder Schritt eine körperliche Anstrengung bedeutet. Ein zerstörtes Dorf am Wege, die Hügel der Hünengräber, so weit das Auge reicht nichts als winterliches, unbestelltes Land. Schneestürme fegen über uns hin, kein Wald hemmt den eisigen Wind. Viele Kameraden haben nicht einmal 36 einen Mantel, niemand hat Handschuhe oder Kopf- schützer. Bei fünfundzwanzig Grad Kälte wühlen wir uns in die hartgefrorene Erde, um wenigstens etwas Schutz zu haben. Zwar ist uns das Gepäck nachgeschickt worden, aber alles, was die Kettenhunde und Peiker- Willis gebrauchen konnten, haben sie für sich behalten. Endlich, nach drei Wochen, sind die Stellungen fertig, und wir beziehen einen anderen Stützpunkt. Über das Dorf, mit den wenigen stehengebliebenen Häusern, nur von Frauen, Kindern und Greisen bewohnt, bringt unsere Kompanie neues Elend. Jeder Trupp soll ein Haus beziehen und bekommt Be- fehl, die Bewohner hinauszutreiben. Unserer Gruppe hat man die Küche eines Bauern- hauses angewiesen. Der Feldwebel stößt uns in den Raum und bemerkt: „In einer halben Stunde komme ich wieder, bis dahin seid ihr eingerichtet.“ Als wir ganz verstört fragen: „Wo sollen denn die Frauen hin und der Hausrat, Feldwebel?“, brüllt er los: „Seid ihr wahnsinnig? Was geht denn euch das an, wo die Weiber sich hinpacken. Was ihr von den Klamotten gebrauchen könnt, bleibt natürlich hier, und das an- dere...“ Bei den letzten Worten greift er nach der kümmerlichen Habe der Frauen und wirft sie durch das geöffnete Fenster in den Schnee des Hofes. „So macht man Quartier! Meldet mir, wenn eure Bude fertig ist.“ Ja, so macht man Quartier! Wir sehen die drei wei- nenden Frauen an. Die fünf Kinder klammern sich an die Mütter. „Kamerad nix gut“, stellen die Frauen fest. „Faschisten nix gut“, antworten wir darauf. Erstaunt be- trachten sie uns, flüstern miteinander, fragen: „Warum ihr nix bum-bum?“ und machen das Zeichen des Schie- 37 ßens. Mit unserem wenigen Russisch erklären wir es ihnen. „Ihr nix Brot?“ fragen sie, und dieselben Frauen, die durch uns obdachlos werden, geben uns Brot. Wahrscheinlich haben die Frauen überall von unserem Schicksal erzählt; denn wenn wir durch das Dorf gehen, ruft man uns aus irgendeiner Ecke zu: „Komm her, schnell, Kamerad!“ Nach einem vorsichtigen Rundblick, ob auch kein Vorgesetzter in der Nähe ist, drückt man uns ein Brot oder wenigstens ein paar Sonnenblumen- kerne in die Hand. RÜCKZUG Sieben Wochen verbringen wir mit Stellungsbau. Eines Morgens begegnen wir an der Rollbahn einem Arbeits- kommando, das alle Telegrafenstangen absägt. Wir tip- pen auf bevorstehenden Rückzug. Und richtig, am näch- sten Tag heißt es: „Fertigmachen.“ In Gewaltmärschen werden wir zur nächsten Feldbahnstation getrieben, eilig zu sechs Mann in den Kipploren verstaut, und ab geht's. Hinter uns fliegen die Schienen der Feldbahn und die wenigen noch unzerstörten Bauernhäuser in die Lust. In Cnegorewka steht der letzte abfahrbereite Zug. Zum ersten Mal haben wir Gelegenheit, einen „erfolg- reichen“ Rückzug mit eigenen Augen anzusehen. : Wo ist die berühmte preußische Organisation? Alles rennt kopf- los durcheinander. Nur die Zerstörung, die Arbeit der Sprengkommandos, ist noch organisiert. Riesige, in der Ukraine zusammengeraubte Lebens- mittelvorräte werden vernichtet. Konserven, Schokolads, Zucker, alles Dinge, die wir nur noch vom Hörensagen kennen, werden in die Luft gejagt. Ausgehungert wie 38 wir sind, versuchen wir, eine Kiste mit Marmelade oder irgend etwas anderes zu ergattern. Strenger Befehl: Alles muß vernichtet werden. Wir überlegen, sollen wir zurückbleiben? Nein, es ist zu riskant. Alles wird ab- gesucht werden, und man wird mit uns, Soldaten ohne Waffen, kurzen Prozeß machen. Auch ist es gefährlich, sich in einem Haus oder in einer Ruine zu verstecken; alles ist unterminiert und kann jeden Augenblick in die Luft fliegen. Endlich wird der letzte Zug freigegeben. „Rette sich wer kann!“ Mit gezogenen Pistolen versuchen die Ofi- ziere vergebens, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Angst ist zu groß. Hat man sich endlich einen Platz im oder auf dem Güterwagen erkämpft - Fliegeralarm! Alles geht in Deckung, und nach der Entwarnung be- ginnt der Tanz von neuem. Plötzlich setzt sich der Zug in Bewegung. Viele springen auf. Ein paar Landser kommen unter die Räder. Fünf Kilometer hinter Cnego- rewka Halt auf freier Strecke. Ein Gegenzug passiert. Von „heldenhaftem Einsatzwillen“ ist sehr wenig bei den Landsern zu spüren. Vorsichtig fragen sie herüber: „Wie sieht es aus in Cnegorewka?“ Ich kann nicht an mich halten und rufe zurück: „Prima, bioß ein bißchen windig. Matmeladenkisten fliegen durch die Luft. Auf Häuserkampf braucht ihr euch nicht ein- zulassen, denn Häuser gibt's nicht mehr. Langweilig ist es auch nicht, die Flieger sorgen für Unterhaltung.“ „Halten Sie die Schnauze“, brüllt mich da ein in der Nähe stehender Unteroffizier an, „noch ein Wort von solchen Greuelmärchen, und ich schieße Sie über den Haufen.“ 39 Nach einer Viertelstunde Fahrt wieder Halt! In zwei Kilometer Entfernung brennt ein Dorf. Donnerwetter, dort sind doch T34! Jawohl, die Rote Armee ist durch- gebrochen, sie wollen zur Eisenbahn, um den Sack zu schließen. Ein Maschinengewehr wird in Stellung ge- bracht, Schußfeld zum Zug. Links und rechts des Zuges stehen plötzlich Offiziere im Stahlhelm mit schußbereiten Maschinenpistolen. „Achtung, alle Offiziere und Mann- schaften, die eine Waffe führen können, sofort aussteigen und zweihundert Meter rechts vom Bahndamm in Stel- lung gehen.“ Trotz der Maschinenpistolen, trotz des drohenden Maschinengewehrs kommen nicht mehr als ein Dutzend Offiziere und Mannschaften zusammen, im Zuge sind etwa fünfhundert. Ich sehe mir auch den großspreche- tischen Herrn Unteroffizier einmal genauer an. „Nun, Kamerad, wir können nicht kämpfen, weil man uns die Waffen abgenommen hat. Aber wenn ich Sie vorhin recht verständen habe, müßten Sie schon längst bei den Leuten da drüben stehen.“ Betreten sieht er mich an. „War ja nicht so gemeint, Kamerad. Und von denen da kommt keiner wieder.“ Ein Offizier steht an unserem Wagen: „Was drückt „ihr euch da oben rum, muß ich erst ein paar umlegen?“ »Wir haben keine Waffen, Herr Oberleutnant. Wir sind 999er.“ „Ach so, die vom fünfzehnten Bataillon - Alle?“ Wieder suchen meine Augen den Unteroffizier. Ver- zweifelt, bittend sicht er uns an. „Vier Mann Bewachung, Herr Oberleutnant.“ Und der Oberleutnant geht ärger- lich weiter. Der Unteroffizier wendet sich verlegen von uns ab. 40 Quatschkopf! denke ich, Wir haben nichts dagegen, daß sich jemand vorm Tod drückt. Nur so eine große Fresse hättest du nicht haben sollen! Drüben blitzt es auf, Granaten bersten hundert Meter rechts vom Bahndamm. Der Zug ruckt an. Von den Abgestiegenen springt die Hälfte wieder auf. Eine Stunde später sind wir in Nikolajew. FEUERLE MACHEN Auch hier geht man schon ans Räumen. Außerhalb der Stadt liegt ein großes Gefangenenlager. Dorthin bringt man uns. Interessiert und verwundert schauen Bevölkerung und Soldaten auf diesen seltsamen Zug. Deutsche Landser ohne Waffen, eskortiert von Unter- offizieren mit Karabinern im Arm. Wir sprechen absicht- lich laut, um allen zu zeigen, daß wir Deutsche sind. Im Gefangenenlager sind auch sowjetische Kriegs- gefangene. Sie scheinen nicht ganz so verelendet wie die Kriegsgefangenen in Deutschland. Wahrscheinlich wer- den sie bei Außenarbeit von der Bevölkerung heimlich versorgt. . Im Lager werden wir von Kameraden aus drei anderen Bataillonen begrüßt. Die Vorfälle bei uns hatte man zum Anlaß genommen, aus sämtlichen Einheiten der Ostfront alle politisch Vorbestraften herauszuzichen. So sind wir auf über vierhundert Mann angewachsen. Das Experiment, die 999er in der Sowjetunion einzu- setzen, ist mißlungen. . Nur ein Zaun trennt uns von den sowjetischen Kriegs- gefangenen. Wie im Zuchthaus gibt es auch hier eine 4 Freistunde. Wir können spazierengehen. Sofort kommen die Gefangenen an den Zaun. „Italianski?“ „Niet, Nemetzki“, antworten wir. Sie rufen einen Dolmetscher. „Wie kommt ihr denn hierher?“ - „Was, ihr seid deutsche Antifaschisten?“ Wie ein Lauffeuer geht es von Mund zu Mund. „Habt ihr zu rauchen?“ Bedauernd zucken wir die Achseln. „Augenblick.“ Dann steckt man uns Tabak und Lebensmittel durch den Zaun. Drei Tage später wird Nikolajew geräumt. Durch die vergitterten Fenster des Lagers sehen wir, wie die mäch- tigen Hafenanlagen der Zerstörungswut zum. Opfer fallen. Das Lager wird geräumt. Wir werden auf Last- kraftwagen verladen. Auf der Rollbahn eine einzige Wagenkolonne. Wagen an Wagen, beladen mit Schrän- 42 ken, Betten, Tischen, Stühlen - mit dem Eigentum der Sowjetbürger. Es sieht aus wie ein Zigeunertreck. Auf jedem ‘zweiten Wagen sitzt ein russisches Mädchen, mitgeschleppt über Hunderte von Kilometern. Zwei Kilometer vor Odessa stehen Posten an der Rollbahn. Befehl: „Von allen Gespannen wehrmachts- fremde Ausrüstungsgegenstände herunter.“ Das ‚Arbeits- kommando besteht aus russischen Zivilisten. Tische und Stühle, Betten und Schränke werden von den Wagen gerissen und fliegen in eine tiefe Schlucht. Gegen Abend lodert aus der Schlucht ein riesiges Feuer zum Himmel. Geraubtes Gut geht in Flammen auf. DAS SIND JA DEUTSCHE! Auf dem Bahnhof von Odessa steht ein Güterzug für uns bereit. Stacheldraht vor den Luken. Zu vierzig Mann werden wir in die Waggons gepfercht, die Türen werden fest verschlossen. Eine lange, qualvolle Fahrt beginnt. Nur auf größeren Stationen werden die Türen geöffnet, und wir haben Ge- legenheit, unter schußbereiten Karabinern unsere Not- durft zu verrichten. Alle zwei Tage reicht man uns ein wenig Brot herein. Während der vierzehntägigen Fahrt bekommen wir nur dreimal eine warme Mahlzeit. Wahr- haftig, ohne das „Training“ in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern hätten wir diese Fahrt nicht über- standen. Unter den Wachmannschaften, es sind fast alles Osterreicher, gibt ‘es viele anständige Kerle. Ab und zu vergessen sie, die Waggontüren zu schließen, Aber als wir durch Deutschland fahren, achtet die Transport- 43 leitung streng darauf, daß wir mit niemand in Be- rührung kommen. Nach einem Fliegerangriff hält der Zug längere Zeit in Koblenz. Ein Personenzug steht auf dem Nebengleis. Die Feldmütze mit dem Schirm nach hinten, damit er mir nicht den Blick versperrt, presse ich mein Gesicht an die Luke. Vierzehn Tage nicht gewaschen, nicht rasiert, halb verhungert, sche ich aus, nun - wie ein Sträfling. An einem Fenster des Personenzuges stehen zwei Frauen, wahrscheinlich Mutter und Tochter. Sie starren mich an, mitleidig und neugierig zugleich. „Was mögen die alles durchgemacht haben“, höre ich eine von ihnen sagen. „Diese armen Menschen, wenn es auch Russen sind, man könnte fast Mitleid mit ihnen haben.“ Ich drehe den Mützenschirm nach vorn, daß die „Hoheitskrähe“ zu schen ist. Laut, damit es alle hören können, rufe ich hinüber: „Sie irren sich, liebe Frau, in diesem Transport sind deutsche Landser.“ Die Frau schreit auf: „Das sind ja Deutsche! Warum sind Sie gefangen?“ will sie wissen. Meine Antwort hört sie nicht mehr. Ein Mann mit dem Parteiabzeichen am Rockaufschlag reißt die Frauen vom Fenster zurück. „Meuterer, Schweine“, kann ich noch verstehen. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. „SCHÖN IST’S BEI DEN SOLDATEN!“ Nach sechzehn Tagen sind wir am Ziel. Truppen- übungsplatz Baumholder. „Alles laden und sichern. Ta zehn Schritt Abstand längs des Zuges verteilen“, hören 44 wir eine Kommandostimme. Das sind bekannte Befehle. Bisher allerdings wurden sie nur beim Ausladen von Kriegsgefangenen gegeben. Diesmal steigen aus den Waggons, verlaust und verdreckt, taumelnd vor Schwäche, deutsche Landser. Die anwesenden Eisenbahner und Reisenden trauen ihren Augen nicht, und um jeden Zwei- fel zu beheben, fangen wir an zu singen. Drei... vier „Schön ist's bei den Soldaten.“ Sogar unser Transportführer muß grinsen. Nach der ersten Strophe brüllt er aber doch: „Aufhören!“ Der Truppenübungsplatz Baumholder macht keinen so finsteren Eindruck wie der Heuberg. Zunächst müssen wir auf einem großen Platz Auf- stellung nehmen. Sorgsam wird darauf geachtet, daß wie mit den dort kasernierten Landsern nicht in Be- rührung kommen. Bald geht es zum Entlausen. Das ist In drei abseits stehenden Kasernenblöcken werden-wir untergebracht. In jedem Block ist ein Wach- kommando stationiert, das den Befehl hat, niemand von uns herauszulassen. In Baumholder liegen noch weitere Einheiten der 999er. Ihnen wurde berichtet, wir hätten unsere Offi- ziere umgebracht, und der größte Teil von uns würde am Pfahl enden. Begreiflicherweise interessiert sich alles für uns - die Politischen, um die Wahrheit zu er- fahren; die Peiker-Willis, um diese „Untermenschen“ in Augenschein zu nchmen. Am nächsten Tag sickert es durch: Ein Massenprozeß ist gegen uns geplant. Nun heißt es: Aufpassen! Für viele von uns, haupt- sächlich die langjährig politisch Vorbestraften, besteht ernste Gefahr. Man wird versuchen, sie als Rädelsführer 45 abzustempeln. Der Ausgang des Prozesses wird von der Aussage eines jeden einzelnen abhängen. Wir legen fest, was auszusagen ist: Mit den Überläufern hatten wir nichts zu tun. Wir empfinden unseren Abzug von der Front als Ungerechtigkeit. Im übrigen aber soll jeder bei seiner Vernehmung ausführlich von dem erlittenen Un- recht, von dem Todeskeller in Berislaw und von dem Diebstahl unseres Eigentums durch die Feldpolizei, er- zählen. Am Ankunftstag setzen die Vernehmungen ein. Doch selbst die tüchtigsten Abwehrofliziere der Wehrmacht können sich nicht mit „Gestapobullen“ messen. So ge- lingt es uns, die Vernehmung in die von uns gewünschte Richtung zu lenken. Nach fünfzig Verhören ist das Ganze zu einer Anklage gegen den Kommandierenden General geworden. Das OKH winkt ab: Vernchmung einstellen, weiteren Bescheid abwarten. Nun beginnen fast gemütlich zu nennende Wochen. Arbeitsdienst wechselt mit Geländeübungen ohne Waf- fen ab. Irgendwo entdecken wir eine Vorschrift, daß Bewäh- rungssoldaten nach einjähriger Dienstzeit Anrecht auf Urlaub haben. Und das große Wunder geschieht: Für vierzehn Tage fahre ich auf Urlaub nach. Berlin. Die meiste Zeit verbringe ich allerdings im Luftschutzkeller. Gleich am zweiten Tage. besuche ich den Betrieb. Hier hat sich nicht allzuviel verändert. Nur daß die Nazis noch brutaler und noch mißtrauischer und die Kollegen der Betriebsgruppe noch aktiver geworden sind. Die Zwangsverschleppten arbeiten unter menschenunwür- digen Bedingungen. Ein Kollege hat Verbindung zu 46 einer Widerstandsgruppe. Ich habe Gelegenheit, mit den Genossen zusammenzukommen. Besonders froh bin ich, daß unsere Auffassungen übereinstimmen: Aufgabe der Antifaschisten in der Wehrmacht ist es nicht, einzeln und planlos überzulaufen, sondern zielbewußte Aufklärungs- arbeit unter allen Soldaten zu leisten. Mit einem Packen Flugblätter und dem Informations- material der KPD trete ich die Rückreise nach Baum- holder an. Die Kametaden fragen mich aus: „Was sagt man in Berlin? Ist etwas von Widerstand zu merken, wie ist die Stimmung?“ Ich berichte ausführlich. Gleich am ersten Tag in Baumholder erlebe ich etwas sehr Inter- essantes. Bataillonsbelehrung. Ein Stabsoffizier erklärt den staunenden Kameraden: „Die bedauerlichen Ereig- nisse an der Ostfront, denen zufolge Sie entwaffnet wur- den, sind auf eine Fehlentscheidung untergeordneter Dienststellen zurückzuführen. Nachdem die Unter- suchung erwiesen hat, daß Sie keine Verbindungen zum Feind unterhalten haben, wurde dem Führer Bericht er- stattet, und der Führer hat befohlen, daß Sie wieder würdig sind, Waffen zu tragen. Ab sofort wird das 21. Festungs-Infanterie-Bataillon aufgestellt, dem Sie an- gehören werden, und in kürzester Zeit kommen Sie zum Einsatz, zur Partisanenbekämpfung. Mit aller Deutlich- keit aber möchte ich sagen: Sollte es wider Erwarten zu Überläufen kommen, so werden wir vor den härtesten Strafen nicht zurückschrecken. Die Wehrmachtführung wird mit allen Mitteln die Auslieferung der Überläufer erzwingen, die restlichen Politischen an die Wand stellen sowie härteste Maßnahmen gegen die Angehörigen er- greifen. Weggetreten!“ 47 EIN GRÜNDUNGSKONGRESS Einzelne Gruppen versuchen, bei der Aufstellung der neuen Kompanien zusammenzubleiben. Ich komme mit Werner in einen Zug. Wir gehen der Reihe nach unsere Freunde durch und einigen uns auf sechs Mann, die wir zunächst ins Vertrauen ziehen wollen. Am nächsten Tage, es ist ein Sonntag im Mai 1944, nehmen wir zur Tarnung eine Decke und ein Schachbrett unter den Arm und gehen ins Freie. So wird die Wider- standsgruppe des 21. Bataillons geboren. Wie herrlich ist es, unter wirklichen Kameraden zu sein und die alte, ewig junge Sprache sprechen zu können. Da ist Werner, der Buchdrucker aus Berlin, mein eng- ster Freund. Klar und kühl, findet er sich auch in den schwierigsten Situationen schnell zurecht. Da ist Karl, ein bekannter Arbeitersportler. 1932 einer der führenden Kollegen des BVG-Streiks. Nur seiner robusten Konstitution verdankt er es, daß er die sieben Jahre im Nazizuchthaus überstand. Bei allen, sogar bei den Vorgesetzten, ist Karl seiner aufrechten Haltung und seines stets hilfsbereiten Wesens wegen beliebt und ge- achtet. Da ist Eugen, ein Bildhauer aus Süddeutschland. Sein mutiges Auftreten gegen die Tyrannei trug ihm lang- jährige KZ-Haft ein. Sein unbeugsames Gerechtigkeits- gefühl, seine tiefe Liebe zu den Menschen machen ihn für unsere Gemeinschaft wertvoll. Da ist Hans, ein junger Berliner aus der Sozialistischen Arbeiterjugend. Hans wurde 1939 verhaftet. Er war in der Widerstandsgruppe „Kapelle“ tätig; Er ist der Jüngste von uns, einer der fähigsten Köpfe. 48 HOCHVERRAT! Wir sechs brauchen nicht viele Worte über Grund- sätzliches zu verlieren. Unser Ziel steht fest: Kampf für die Verständigung mit den Völkern, die wir unterjochen sollen. Um diesen Kampf führen zu können, ist eine Organisation, eine Gruppe notwendig. Bis jetzt haben wir nur den „Kopf“. Eile tut not. Es ist eine schwere Aufgabe. In der Weimarer Republik stand ich in Verbindung mit einer Gruppe antifaschisti- scher Reichswehrangehöriger. In Rüstungsbetrieben ent- stand unter meiner Mitwirkung eine freie Gewerkschafts- gruppe, ja, sogar im Zuchthaus ging unsere Arbeit weiter. Aber am stolzesten bin ich darauf, daß es bei den 999ern gelang. Wir schmieden einen Plan: Jeder von uns wird für eine Kompanie verantwortlich gemacht; er ist also Kompanieführer, allerdings ohne Rangabzeichen. Seine Aufgabe ist es, in jedem Zug einen Mann ausfindig zu machen, der wiederum durch einen anderen Verbindung zu jeder Gruppe aufnimmt, So kennen sich jeweils immer nur vier Mann. Nun beginnt eine gefährliche Arbeit. Der „Kopf“ muß jeden Tag mindestens einmal zusam- menkommen und auf gemeinsamen Spaziergängen die Lage besprechen. Die Herren Offiziere haben es beque- mer bei ihren Lagebesprechungen; wir müssen ständig daran denken, daß es unzweckmäßig ist, die Köpfe allzu häufig zusammenzustecken. Für den Fall, daß die Grup- pen plötzlich mobilisiert werden müssen, vereinbaren wit ein Losungswort, gleichzeitig ein Erkennungszeichen für Freunde, das dem Uneingeweihten nichts sagt. a 07 49 „STAMBUL“ UND „DER GRÜNE SCHLIPS“ Eine vielgerauchte Zigarette ist die „Stambul“. Wir wählen sie zu unserem Losungswort, und die Angehöri- gen der Gruppen haben zu fragen: „Kamerad, hast du nicht eine Stambul für mich?“ Der Uneingeweihte ant- wortet mit einem Ja oder mit einem Nein. Der Ein- geweihte aber sagt: „Heute gibt es keine Stambul mehr, versuch mal die dritte Sorte.“ Drei Tage später können wir bei der Lagebesprechung feststellen: Wir haben Verbindung zu allen Zügen und zu fast allen Gruppen. Schon über hundert Mann ge- hören unserer Organisation an. So geschickt arbeiten die Kameraden, daß nicht einmal wir wissen, wer von unse- rer Stube Widerstandskämpfer ist. Endlich, im Sommer 1944, erfüllen die Westmächte ihre Verpflichtung gegenüber den sowjetischen Verbün- deten, gegenüber allen vom Faschismus unterdrückten Völkern, errichten die zweite Front und landen auf dem Kontinent. Durch unsere Verbindung zum Stab erfahren wir mehr als die Stammannschaften. Unser Ziel ist nicht der Westen, sondern Griechenland. Viele Deutsche sehen zu dieser Zeit die Entwicklung des Krieges noch deutlicher. Davon zeugt ein Witz über die Auslegung ‘der Zigarettensorte „Stambul“: „Szalins Armee Marschiert Bald Untern Linden. Nun kann uns unser Losungswort gefährlich werden. Bei der Lage- besprechung macht Hans einen neuen Vorschlag. Die Landser lesen viel, meist jedoch Kriminalromane. Einer davon heißt: „Der grüne Schlips“. Also heißt es nun: „Hast du mein Buch ‚Der grüne Schlips‘?“ Und die Ant- wort: „Nein, aber eine blaue Krawatte.“ 50 Vom Stab erfahren wir: In spätestens einer Woche geht es los! Und noch etwas anderes erfahren wir: Ver- läßliche Kriminelle sind in Bad Kreuznach verteidigt wor- den. Sie erhielten den Auftrag, allen Politischen auf die Finger zu schen und besondere Vorkommnisse direkt der Abwehrabteilung zu melden. Sepp, unser Mann im Stab, nennt uns die Namen der „Vertrauensleute“. Wic überlegen, ob wir sie öffentlich Anprangern sollen, um alle Kameraden zu warnen. Doch cs ist besser, die „Vertrauensleute“ in Sicherheit zu wie- gen. So informieren wir nur zuverlässige Kameraden, die mit einem dieser Kriminellen auf einer Stube liegen. ORGANISATION IN FAHRT Am 30. Juni geht es los: Griechenland. Eine Eisen- bahnfahrt kand recht langweilig sein. Aber wir haben so viel zu tun, daß die Zeit allzu schnell verfliegt. Unser Zug, der dritte Zug der zweiten Kompanie, ist fast hun- dertprozentig organisiert. Auch unter den Stammann- schaften sind ganz vernünftige Kerle. So können wir uns in einer Ecke des Waggons zusammensetzen und alle Fragen besprechen, für deren Erledigung bisher keine Zeit war. Das Rattern der Räder übertönt unsere Gespräche. Übrigens nimmt uns der Feldwebel über- haupt nicht ernst. Er meint: „Ihr seid ja gar keine richtigen Soldaten. Ihr spinnt dauernd von Materialis- mus und so'n Zeug, ’n richtiger Landser muß doch auch mal an die Weiber denken.“ Wir denken schon, Feld- webel, aber nur anders. a. 51 Bei jedem größeren Halt machen wir eine Lage- besprechung. Wir erfahren, daß eine zweite Widerstands- gruppe existiert, eine ziemlich scktiererische. Kamerad Davideit hat sich mit einigen Freunden die Aufgabe ge- stellt, die Stammannschaften politisch aufzuklären.. Nun, wir halten es für richtiger, das Schwergewicht auf den Zusammenschluß der Antifaschisten zu legen. Immerhin wollen wir mit dieser Gruppe in Verbindung bleiben und uns gegenseitig unterrichten. Unsere Organisation ist mittlerweile auf fast zweihundert Mann angewachsen. LARISSA Nach siebentägiger Fahrt erreichen wir Larissa. Am Rand der Stadt liegt eine große Kaserne. Hier bringt man uns unter. Schon am nächsten Morgen ist Aus- bildung angesagt. Brütende, mörderische Hitze lastet auf dem großen Exerzierplatz. „Links marschiert auf, rechts marschiert auf, marsch, marsch!“ Wir stecken noch in den dicken Tuchuniformen, eine zusätzliche Schikane des Bataillonskommandeurs. Und in dieser Uniform müssen wir bei vierzig, fünfzig Grad Celsius Posten stehen. Es ist eine irrsinnige Tortur. Hinzu kommen Wassermangel, Malaria und Pappatacifieber. Wer entgegen dem Befehl in der etwas leichteren Arbeitskleidung oder ohne Ga- maschen herumläuft, bekommt drei Tage Bau. Wir sind verzweifelt, nutzen diese Gemeinheit aber aus, um die letzte Schlafmütze wachzurütteln. Niemand hat Lust, in die Stadt zu gehen, obwohl es doch so notwendig ist, Fühlung mit der Bevölkerung aufzunehmen. Nach einer Woche sind nur noch fünfundzwanzig Prozent unseres Bataillons dienstfähig. Zwei Todesopfer hat die dicke 52 Uniform gefordert. Endlich gibt man die Tropen- uniformen aus. Wir werden alle „Skatspieler“. Im Schatten eines Bau- mes versammeln sich allabendlich ein paar Kameraden. Von weitem sieht es aus, als spielten sie tatsächlich Skat. In Wirklichkeit aber ist unser „Kopf“ bei der Lage- besprechung. Zuerst befürchten wir ein allzu großes Inter- esse der Peiker-Willis. Doch grundlos! Larissa bietet ihnen genug Abwechslung. Neben den Bordellen ist es vor allem der Handel, der sie begeistert. Vergebens strecken wir in Larissa unsere Fühler aus. Mchr als eine Sympathieerklärung der Griechen: „Krieg nix gut“, erreichen wir nicht. Es liegt wohl daran, daß eine SS-Einheit in Larissa stationiert ist, deren Verhalten es uns unmöglich macht, Vertrauen bei der Bevölkerung zu gewinnen. Überdies wird jeder Einwohner von grie- chischen Faschisten bespitzelt, so daß ein unbedachtes Wort zum Verhängnis werden kann. Uns erreichte die Nachricht von den Ereignissen des 20. Juli. Nun bedauern wir sehr, noch keine Verbindung zu haben, keine Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren. Übrigens, großen Eindruck macht diese Generalsver- schwörung nicht auf uns. Sie liefert jedoch Stoff für vor- sichtige Diskussionen, und das nutzen wir aus. ZWEI ÜBERFÄLLE Einsatzbefehl. Es geht nach Farsala. Die Eisenbahn funktioniert längst nicht mehr. Also werden wir auf Lastkraftwagen verladen. Ist es Zufall oder Absicht: Eine SS-Kolonne begleitet uns. Unerträgliche Hitze 53 herrscht. Selbst der Fahrtwind ist wie ein glühender Hauch. Da wir durch Partisanengebiet fahren, dürfen wir das sogenannte Sturmgepäck nicht abschnallen. Hinter Larissa stößt noch eine Kolonne zu uns. Der aufgewirbelte Stra- Benstaub macht das Atmen fast unmöglich, wir lechzen nach Wasser, die Feldflaschen sind längst leer. Nach stundenlanger Fahrt ein Halt. Links im Tal ist eine er- frischende Quelle. Auf jedem Lastkraftwagen bleibt die MG-Bedienung, wir anderen laufen, taumelnd vor Hitze, zur Quelle hinunter. Rechts von der Chaussee liegt das Anwesen eines grie- chischen Bauern, eine halbzerfallene Hütte. Drei Schafe weiden davor. Fünf oder sechs in Lumpen gehüllte Kinder tummeln sich in der Sonne. Hinter der Hütte erstrecken sich ein paar Morgen Mais- und Melonen- felder. Die Mannschaft des SS-Autos entdeckt plötzlich das Melonenfeld. Wie ein Rudel Wölfe fällt sie darüber her. Die Kinder flüchten schreiend. „Kamerad, Kame- rad, bitte, bitte, nichts klepsi-klepsi (stehlen). Sieh, ich viel Picollo“, fleht die herbeigeeilte Mutter und deutet auf ihre Kinder. Zuerst tun die SS-Leute so, als sähen und hörten sie die Frau überhaupt nicht. Als diese in ihrer - Verzweiflung einen SS-Mann am Ärmel faßt, blickt der sie eine Sekunde verdutzt an. Dann greift er zur Pistole. Laut aufweinend flüchtet die Frau. Die SS-Leute lachen und amüsieren sich und plündern das Melonenfeld wei- ter. Unseren Peiker-Willis schmeckt jetzt das klare Quell- wasser auch nicht mehr. Sie beteiligen sich an dem Raub- zug der SS und trampeln des Letzte nieder. „Aufsitzen, abfahren“, heißt es. „Hier hast du deine Melonen wieder!“ brüllt ein SS- 54 Mann und wirft eine unreife Frucht an die Wand des Hauses. Mit lautem Lachen wird sein „Witz“ quittiert. Mit Genugtuung stelle ich fest, daß auf unserem Last- kraftwagen das Verhalten der SS auf eindeutige Ab- lehnung stößt. Rechts und links der Straße erheben sich Berge. Wir fahren recht langsam — Minengefahr. Da, ein scharfes Bremsen, wir fallen durcheinander. Über uns brummt ein Tiefflieger. Tack-tack-tack hämmern schwere Bord- waffen. Die Flieger haben die Sonne im Rücken, :nie- mand hat sie geschen. Jetzt beharken sie die ganze Ko- lonne. Hals über Kopf springen wir vom Wagen und gehen in Deckung. Hinter uns ein Aufschrei: „Helft mir doch, Kameraden, helft mir doch!“ Der Beifahrer des SS-Wagens ist verwundet, ist eingeklemmt zwischen Sitz und Steuer. Der Wagen brennt lichterloh. Der Ver- wundete schreit minutenlang, so schreit ein Mensch, der bei lebendigem Leibe verbrennt. Seine SS-Kameraden bleiben in Deckung. Nicht einmal den Gnadenschuß wollen sie ihm geben. Sie fürchten, daß die Munitions- kisten auf dem Wagen jeden Augenblick in die Luft gehen. Wir kriechen vorsichtig näher, um vielleicht noch helfen zu können. Zu spät - eine hohe Stichflamme. Weiter geht die Fahrt. Endlich kommen wir in Far- sala an. Der Ort hatte vor dem Kriege etwa drei- bis fünftausend Einwohner. Nur fünfhundert, meist Frauen und ältere Männer, sind zurückgeblieben. Viele Männer sind zu den Partisanen in die Berge gegangen. Von den Häusern stehen nur noch wenige. Die Italiener hatten eine Strafexpedition unternommen und jedes Haus, in dem angeblich Kommunisten wohnten oder gewohnt haben sollten, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. 55 „VORWÄRTS, JUGEND...“ Unser Zug wird zur Bewachung einer früheren Bahn- station eingesetzt. Ein Kilometer trennt uns vom Bataillon. Die vierte Kompanie besetzt ein in der Nähe liegendes Dorf. Glücklicherweise haben wir einen Ver- trauensmann unter den Sanitätern. So wird die Sanitäts- stube zum Treffpunkt des „Stabes“. Es ist ein ekliges Gefühl, nachts Posten zu stehen. Noch wissen die Partisanen nicht, wer wir sind. Also nehmen wir unsere Wache ernst und ballern bei dem ge- ringsten Geräusch wie verrückt los. Vorsichtshalber natür- lich immer hoch in die Luft. ' Das trägt uns ein Lob un- seres Kompanieführers ein. „Die sind auf Draht, die Jungen.“ Nach drei Tagen werden wir abgelöst und kommen in den Ort. * Unsere Kompanie ist in einer Schule einquartiert. Denn wozu brauchen. die Griechen Schulen? Die faschi- stischen Okkupanten interessiert überhaupt nicht, was aus den griechischen Kindern wird. Überall, selbst im klein- sten Dorf, finden sich Lehrkräfte, meist sind es Geist- liche, die den Kindern das Notwendigste beibringen: Lehrer und Geistlichkeit, wie überhaupt die meisten Intellektuellen Griechenlands, sind begeisterte Anhänger der Volksfront. In nächster Nähe der Deutschen bringen sie den Kindern die Freiheitsgesänge ihres Volkes bei. Ich entsinne mich noch deutlich, wie ich das wunderbare „Embros Eponites“ zum ersten Male von einer Gruppe griechischer Kinder in Farsala hörte. „Das klingt ganz imanierlich“, meinte unser Unteroffizier. Ich fürchte, den Text hätte er weniger „manierlich“ gefunden. 56 „Vorwärts, Jugend, mit den Waffen in die Berge, kämpfe gegen die Sklaverei!“ „EURE EINHEIT WIRD NICHT ANGEGRIFFEN!“ So schnell wie möglich wollen wir mit den Griechen in Kontakt kommen. An jedem Abend stellen wir erneut die Frage: „Hat es geklappt?“ „Nein.“ Verdammt, sollen wir denn immer als Faschisten an- gesehen werden? Der Zufall kommt uns zu Hilfe. Farsala hat einen kleinen See. Er wird von Gebirgs- bächen gespeist, sein Wasser ist herrlich kühl. Alfted Möbius und ich gehen zu außergewöhnlicher Zeit baden, in der siedendheißen Mittagsstunde. Uns folgen, wahr- scheinlich mit der gleichen Absicht, zwei griechische Jun- gen. Alfred und ich können nicht gemeinsam ins Wasser gehen; denn es liegt strikter Befehl vor, Uniformen und Waffen nie allein zu lassen. Hätten wir den schlecht- gekleideten Jungen auch unsere Uniformen von Herzen gegönnt, so wäre es doch riskant gewesen, nackend auf der Schreibstube zu erscheinen und zu melden: „Uniform gestohlen.“ Also bleiben wir noch ein bißchen sitzen. Die beiden Jungen wollen uns in ein Gespräch ver- wickeln. Wir wissen noch nicht, daß fast jeder Grieche mit der Widerstandsbewegung verbunden ist. Wir freuen uns darüber, wie geschickt sie uns auszuhorchen ver- suchen. Warum so umständlich, denken wir. Wenn Grie- chisch nur nicht so entsetzlich schwer wäre, oder wenn unsere jungen Freunde besser Deutsch verstünden! „Krieg nix gut“, behaupten die Jungen, 57 „Hitler nix gut“, sagen wir. Ganz erstaunt blicken sie uns an. Jetzt müssen wir deutlicher werden. „Parti- sanen extra prima“, erklären wir, „wir nix Nazi.“ Mit in den Sand gemalten Zeichen versuchen wir, ihnen deut- lich zu machen, daß wir keine regulären Soldaten, son- dern in die Wehrmacht gepreßte Antifaschisten sind. Da fällt ein Name, der uns aufhorchen läßt: Ernst Thäl- mann. Wir trauen unseren Ohren nicht. Der Name dieses großen deutschen Arbeiterführers im Munde eines jungen Griechen, tausende Kilometer von Deutschland entfernt. Das Eis ist gebrochen. Ich spreche Esperanto und frage: „Tschu wi komprenas espe- ranton?“ Die jungen Griechen haben wahrscheinlich „Espania“ herausgehört und antworten in schlechtem Spanisch, daß ihr Onkel Spanisch verstünde. Das ist großartig. Alfred war bei der Internationalen Brigade und spricht ausgezeichnet Spanisch. Abends sitzen wir in einem griechischen Bauernhaus. Nun, der Onkel ist kein Onkel, dafür ein aktiver Parti- san, der seinen Urlaub in Farsala verbringt. Schnell ist das nötige Vertrauen hergestellt. Alfred und der Parti- san tauschen gemeinsame Spanienerlebnisse aus, da springt der Grieche auf einmal voller Freude auf und " küßt uns ab. Er ruft die Familie zusammen und wirft einen Maiskolben in das Feuer. Der Maiskolben macht die Runde, und als alle davon gegessen haben, gehören wir zur Familie. Der Grieche nennt uns den Verbin- dungsmann, an den wir uns wenden können, wenn er selber wieder in den Bergen kämpft, Es ist der Pope, oder wie ihn die Griechen nennen: der Papas. Endlich haben wir Verbindung. Nun kommt es darauf an, sie auszuwerten. „Ihr könnt nachts auf Posten ruhig 58 schlafen“, sagt der Grieche. „Eure Einheit wird nicht angegriffen. Wir haben vorläufig nur eine Bitte: Warnt uns vor Plünderungsaktionen und vor Strafexpeditionen der Wehrmacht.“ Gern geben wir dieses Versprechen. Bald sollten wir Gelegenheit haben, es einzulösen. DIE STRAFEXPEDITION Unser Kompanieführer ist ein zweiundzwanzigjähriger Leutnant, Sohn eines schwerreichen Industriellen aus Westdeutschland. Er ist nicht schlechter als viele andere Offiziere der Hitlerwehrmacht, aber auch nicht besser. Er langweilt sich unsagbar in diesem „griechischen Nest“. Oft unternimmt er Reitausflüge in die Umgebung. Hier- bei begleiten ihn stets ein Dutzend griechischer Faschisten, die sogenannten Rallides. \ Einmal kommen sie in ein abgelegenes Dorf. Es ist von der Wehrmacht nicht besetzt, und darum gibt es dort noch etwas mehr Vieh als in den anderen Dörfern. Bewundernd bleiben die Augen des Leutnants an einem herrlichen Hengst hängen. Die Rallides folgen seinen Blicken und bringen ihn auf eine „Idee“: „In diesem Dorf viel Partisanen, Leutnant. Wir machen Strafexpe- dition. Sie haben extra prima Pferd, und wir werden mit Banditenschweinen abrechnen.“ Am Abend Befehlsausgabe: „In einem sechs Kilo- meter entfernten Dorf sind Banditen festgestellt worden. Die erste Kompanie mit Unterstützung des schweren Zuges unternimmt eine Strafexpedition. Munitionsaus- gabe noch heute abend. ‚Abmarsch morgen früh vier Uhr. Weggetreten.“ Alfred und ich laufen schnell zu unserem griechischen Freund. Aufgeregt und verzweifelt unter- 59 richten wir ihn von dem geplanten Überfall. Nur einen Augenblick teilt er unsere Verzweiflung. Er steht schnell auf und kommt auf uns zu: Alfred übersetzt seine Worte: „Im Namen des griechischen Volkes sage ich euch Dank für eure Warnung.“ „Was nützt euch denn die Warnung? Ihr könnt ja gar nicht mehr hinüber zum Dorf, gleich beginnt die Sperr- stunde, dann herrscht Standrecht, und kein Grieche darf sich auf den Straßen sehen lassen. Wie willst du das be- drohte Dorf warnen?“ frage ich. „Es geschieht, Kameraden, verlaßt euch drauf“, und eilig entfernt sich unser Freund. Ungläubig gehen wir zurück und empfangen Munition. Oben auf einem Berg flammt ein großes Feuer auf. Das Signal für die Bewohner der umliegenden Dörfer: Flieht in die Berge, schafft alles Vieh fort, die Deutschen kommen. Wir verbringen eine unruhige Nacht. Um vier Uhr müssen wir antreten. Hundertfünfzig bis an die Zähne bewaffnete Soldaten mit Maschinengewehren, Handgra- naten und Granatwerfern setzen sich gegen ein wehrloses Dorf in Bewegung. Die Rallis-Faschisten beteiligen sich an der Aktion. Ihr Auftrag lautet: fünfhundert Meter links der. Kom- panie vorgehen und gleich nach unserem Abmarsch mehrere Salven in die Luft abgeben. Banditen haben eine deutsche Einheit beschossen ... Uns empört dieser Plan maßlos. Wir wissen noch nicht, daß es ein alter Trick der Wehrmacht, hauptsäch- lich der SS, ist, bei jeder Strafexpedition ein Sonder- kommando in Zivil vorzuschicken, das die Aufgabe hat, einen Überfall zu markieren. 60 Zwei Kilometer vor dem Dorf formieren wir uns zum Angriff. Das Dorf wird eingekreist. Geräuschlos sollen wir uns heranarbeiten und auf ein verabredetes Signal in das Dorf einbrechen. Einbrechen, das ist das richtige Wort. Bei geringstem Widerstand ist sofort von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Unsere Kameraden, die nicht wissen, daß wir unsere Freunde warnen konnten, sind verbittert. „Das machen wir nicht mit, wenn die Peiker-Willis plündern, schießen wir sie über den Haufen.“ Wir müssen die Kameraden aufklären. Werner und ich sind Melder. Unser Unter- offizier hat den Auftrag, einzelne Gruppen zu kon- trollieren. Wir begleiten ihn, und bei dieser Gelegenheit flüstern. wir den Kameraden zu: „Allen Freunden Be- scheid sagen, keine Unbesonnenheiten! Nur passiven Widerstand! Es kann nicht viel passieren, das Dorf ist gewarnt“, und laut fügen wir hinzu: „In einer halben Stunde, sofort nach Ertönen des Signals, eine dreifache Gewehrsalve und mit Hurra ins feindliche Dorf.“ Noch fünf Minuten. Wir blicken dorthin, wo sich die Umrisse der Gehöfte gegen den aufsteigenden Tag ab- zeichnen. Was geschieht, wenn die Warnung die Bevöl- kerung nicht mehr erreicht hat? Was geschieht, wenn noch Männer im Dorf sind? Angestrengt lauschen wir hinüber; kein Vieh brüllt, nut die Hähne begrüßen den neuen Tag. Ein gutes Zeichen. Da peitscht die Salve durch die Luft, ein hundertfaches Hurra ertönt. Die Kompanie bricht ein. Gleich bei den ersten Häusern merken wir, daß un- sere Warnung gefruchtet hat. Nur verängstigte Frauen öffnen. ‚Die Stallungen sind leer, Kein Mann ist im Dorf. Auch der Hengst, den der Leutnant so bewundert 61 hat, ist in den Bergen. Groß sind Wut und Enttäuschung bei unserem Kompaniechef, bei einem Teil der Unter- offiziere und bei den Peiker-Willis. Sie lassen ihre Wut an den Bewohnern aus. Von Haus zu Haus wird ihr Auftreten brutaler. Im Haus eines Weinbauern entdecken sie ein großes Faß. Eilig füllen sie ihre Kochgeschirre, und in einer Viertelstunde sind alle sinnlos betrunken. Eine Vernichtungsorgie beginnt: Türen werden eingeschlagen, Fenster zertrümmert, Gc- schirr wird zerschlagen und der kümmerliche Hausrat der Bewohner durcheinandergeworfen. Was gefällt und gebrauchsfähig ist, wird eingesteckt. Das Kleinvich treibt man aus den Ställen, die Henne nimmt man vom Nest, dreht ihr den Hals um und zertritt die Eier. Gar- tenbeete werden zerstampft. Am tollsten treibt es der Oberfeldwebel. Er stürzt einem Trupp voraus, vermutet im Hause des Weinbauern noch andere Schätze: „Die Bande muß Uso haben“, brüllt er. (Uso ist eine grie- chische Schnapsatt, eine Art Weinbrand.) Als er das Be- gehrte nicht findet, stürzt er zurück in den Stall. Ein Schaf und eine Milchziege stehen dort. Die Bäuerin kommt händeringend herbeigelaufen: „Bitte, Herr, laß mir meine Ziege, sie gibt Milch für meine Kinder“; weinend fällt sie vor ihm nieder, umschlingt seine Knie. „Halt die Fresse, Banditensau. Wo ist dein Kerl? Sag’s, und du kannst Ziege behalten“, schreit er. „Wo Mann?“ „Ich nix Mann, Mann in Deutschland“, wieder bettelt sie: „Bitte, laß mir meine Ziege.“ „Hau ab, du Miststück.“ Ein Rallis-Faschist schlägt für den Feldwebel zu, und drei laut weinende Kinder werfen sich über die ohnmächtige Mutter. 62 .. Hans Mühmel hat diese Szene beobachtet. Kreideweiß stürzt er auf mich zu: „Ich kann nicht mehr, ich mach nicht mehr mit“, stöhnt er verzweifelt. „Ich schieße diese Schweine nieder.“ „Mach keinen Unsinn, Hans.“ Er geht still beiseite; ich glaube, er weint. Ein Ferkel hat sich losgerissen und rennt quiekend über den Marktplatz. Taumelnde Rallis-Faschisten und Peiker-Willis laufen hinterher. Sie haben zuviel getrun- ken, um es fangen zu können. Jähzornig reißt einer von ihnen das Gewehr von der Schulter und fängt an, auf das Ferkel zu schießen. Dreck spritzt hoch, das Ferkel rennt weiter. Andere wollen ihm nicht nachstehen. Eine wilde Knallerei geht los, Blitzschnell haben wir die Situation erfaßt. Hans steht gerade in Schußlinie. Er ist ein guter Schütze. Aus der Hüfte schießt er, und der Rallis-Faschist bricht zusammen. In dem jetzt entstandenen Durcheinander haben wir es leicht, zu verschwinden. Sekunden später stehen wir in einem Bauernhaus. Verweint und verängstigt schen uns die Bewohner an: eine alte Frau und eine junge Mutter mit ihren Kindern. Wir blicken auf die um- gestürzten Truhen, das zerschlagene Geschirr, die zeı- brochenen Einrichtungsgegenstände — wir können den Anblick nicht ertragen. Wir verlassen das Haus, nur Hans bleibt zurück, um vorsichtshalber rasch den Ge- wehrlauf durchzuzichen. Endlich: Alles sammeln! Die Unterführer melden dem Kompanicchef: „Befehl ausgeführt, Dorf durchsucht, männliche Bevölkerung nicht anwesend, keine Waflenfunde, kein Widerstand. Ein griechischer Freiwilliger von eigenen Leuten ver- 63 sehentlich erschossen. Sonst keine besonderen Vor- kommnisse.“ „Danke, in Ordnung, fertignachen zum Abmarsch.“ Nein, keine besonderen Vorkommnisse. Nur ein ge- plündertes Dorf und mißhandelte Einwohner, weil ein deutscher Offizier ein Pferd haben wollte! EIN FLUGBLATT An diesem Abend verläuft unsere Zusammenkunft stürmisch. Unsere Kompanieleiter berichten von der Stimmung in den Gruppen. Es herrscht eine ungeheure Empörung. Wir gehen zu unserem griechischen Freund, um uns mit ihm zu beraten. Sein Urlaub ist verlängert worden, damit er die Verbindung mit uns aufrechterhalten kann. Wir fragen ihn, ob er es nicht für richtiger halte, wenn wir der Wehrmacht den Rücken kehrten. „Bleibt noch“, gibt er uns zur Antwort, „stellt euch vor, welch großen Dienst ihr dem griechischen Volk mit eurer Warnung erwiesen habt. Vielleicht wißt ihr nicht, wie dieselbe Aktion ohne euer Eingreifen ausgesehen hätte, Dutzende von Männern wären verschleppt wor- den. Und hätte man ein paar alte Flinten gefunden, wäre das Dorf dem Erdboden gleichgemacht worden. Ihr könnt uns da, wo ihr seid, viel besser helfen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Partisanen stark genug sind, die Wehrmacht offen anzugreifen. Dann , können wir euch nicht mehr zumuten zu bleiben; denn Minen und Kugeln machen keinen Unterschied zwischen Faschisten und Antifaschisten. Hier habe ich übrigens etwas Interessantes für euch“, schließt er. Er legt ein Flugblatt des Aktionskomitees „Freies Deutschland“ auf 64 den Tisch. Durch das Flugblatt erfahren wir, daß die ELAS die deutschen Antifaschisten anerkennt. Es besteht ein zentrales Komitee, das die antifaschistische Arbeit unter den deutschen Soldaten mit Unterstützung der ELAS organisiert. Wir sind überrascht, denn wir hatten geglaubt, die einzigen zu sein, die Widerstandsgruppen bildeten. Nun erfüllt uns große Freude. Davon sollen auch die Kameraden erfahren. Wir fragen unseren Freund, ob die Möglichkeit besteht, Flugblätter in größe- rer Menge herzustellen. „Natürlich.“ „Also dann geben wir dir morgen abend einen Flug- blattext für unser Bataillon.“ - „Einverstanden!“ sagt unser ELAS-Kamerad. Wir könnten das Flugblatt mit der Hand schreiben, aber wozu haben wir unseren Mann beim Stab? Die Herren Offiziere. streifen sehr viel in der Umgebung herum, und die wunderbare Schreibmaschine steht uns zur Verfügung. So macht sich Werner auf den Weg zum Bataillon und diktiert ein Flugblatt direkt in die Maschine. In diesem Flugblatt erwähnen wir unter anderem namentlich alle diejenigen, die sich an den Plünderungen im Dorf beteiligt haben. Noch ganz frisch gelangt dieser Entwurf zu unserem ELAS-Kameraden. Jetzt sind wir gespannt, wie die Flugblattverteilung klappen wird! Die Stützpunkte, die wir zu bewachen haben, liegen etwas außerhalb von Farsala und werden nur des Nachts bezogen. Unsere Gruppe ist auf einer kleinen Anhöhe postiert. Fein säuberlich ausgelegt, lachen uns die Flug- blätter entgegen. Gespannt auf die Wirkung, überreichen wir sie unserem Unteroffizier. 5 3367 65 „Das müssen wir sofort abliefern, das ist Feindpropa- ganda“, sagt er hastig. Belustigt schen wir zu, wie er sich in die Trümmer einer alten Moschee zurückzieht und beim Schein seiner Taschenlampe ein Flugblatt studiert. Nach einer Stunde ist Postenkontrolle durch Feldwebel B. Noch che wir unsere Meldung vorbringen können, platzt er los: „Sind hier Flugblätter ausgelegt worden?“ „Jawohl, Herr Feldwebel!“ „Was sagt ihr dazu?“ fragt er lauernd. „Wir lesen keine Feindpropaganda, Herr Feldwebel, und außerdem ist es zu dunkel“, parieren wir seinen plumpen Angriff, Ich liege in meinem Schützenloch und sche auf das stille Farsala. Die Dämmerung verwischt die Konturen, sie macht sogar die deutsche Besatzung unsichtbar. Auch die Nar- ben dieses unglücklichen Landes, die Ruinen, deckt sie zu. Auf jedem Haus stehen Störche; ab und zu schreit ein Maulesel, und der leichte Wind trägt Klangfetzen eines griechischen Liedes zu mir herüber. Eine schwer- mütige, halb orientalische Weise, aus der Zeit der Tür- kenbesetzung: „Prügel mich, o Türke...“ Wie schwer geprüft ist dieses so stolze Volk — wie herrlich ist seine Landschaft! Wie glücklich werden seine Menschen sein, wenn sie sich einst selbst regieren! UNERWARTETE WIRKUNG Das Flugblatt hat eine unerwartete Wirkung. Die Stammannschaften haben entgegen dem Befehl nicht alle Exemplare abgeliefert, und überall stehen Gruppen zu- sammen und besprechen den Inhalt. Die Peiker-Willis 66 hat die Angst gepackt: Wer kann den Partisanen unsere Namen genannt haben? Wir tun nichts, um sie zu be ruhigen. Um aber jede Möglichkeit auszuschalten, daß man in uns die Nachrichtengeber vermutet, bringen wir die Parole auf: Den Rallides ist nicht zu trauen, unter ihnen sind Spitzel, sie haben die Partisanen informiert, und auch der erschossene Rallis-Angehörige kommt auf ihr Konto. Mit Genugtuung stellen wir fest: Das Verhältnis zwi- schen griechischen und deutschen Faschisten trübt sich. Die deutschen Dienststellen sind nahe daran, die ganze Bande zu entwaffnen und einzusperren ... Die geraubten Hühner werden sofort zubereitet, und je zwei Mann bekommen ein Huhn. Karl Fladerer, ein junger Österreicher, begeht eine Unvorsichtigkeit; er lehnt das Huhn ab: „Ich bin Soldat und kein Räuber.“ Eine Stunde später sitzt er wegen „Verächtlichmachung der Wehrmacht“ hinter Schloß und Riegel. Es sieht böse für ihn aus. Nur weil sich der Feldwebel für ihn ein- setzt, wird er nach drei Tagen wieder freigelassen. Von unserem Mann im Stab erfahren wir jedoch, daß dem Regiment über den Vorfall Bericht erstattet wurde. DIE EINGEBUNG Gleich hinter Farsala biegt ein gut befahrbarer Weg ab, er führt in die Berge. Eines Tages hat unser Pimpf, so nennen wir unseren Kompanieführer, eine „Ein- gebung“: „Auf diesem Wege könnten die Partisanen ver- sorgt werden. Um das zu verhindern, sind sofort Posten aufzustellen, die jedes Fahrzeug genauestens kontrol- lieren.“ 5. 67 Das kann den Griechen sehr gefährlich werden, denn dieser Weg ist bisher, auch von der vorher dort liegen- den SS nicht kontrolliert worden. Der dritte Zug, unser Zug, hat die Wachen zu stellen. Alfred und ich melden uns freiwillig für den ersten Posten. Werner saust los, um unseren ELAS-Kameraden zu informieren. Als wir eine halbe Stunde später den Posten beziehen, schen wir un- seren jungen griechischen Freund, der uns damals zu seinem „Onkel“ führte, querfeldein laufen, wahrschein- lich, um im nächsten Dorf Bescheid zu sagen: Seid auf der Hut, die Deutschen bewachen den Weg vor Farsala. Wir atmen erleichtert auf. Da, was ist das? Ein Auto nähert sich. Das kann heikel werden! Unser Pimpf sitzt in zweihundert Meter Entfernung auf dem Balkon seines Gefechtsstandes und sonnt sich. Er kann alles beobach- ten. Was tun? Das Auto fährt langsamer. Sicher haben die Insassen uns gesehen. Sic fahren links heran. Wollen sie umdrehen? Das wäre sinnlos. Der Pimpf würde telefonieren, und am nächsten Stützpunkt würde das Auto angehalten werden. Wir springen mitten auf die Chaussee, Gewehr im Anschlag, winken wir: Elate, Elate! (Kommt her!) So, nun heißt cs aufpassen. Wir spüren es deutlich: In diesem Auto sind Widerstands- kämpfer. Der Wagen stoppt. Das Gewehr noch immer in An- schlag, gehe ich auf den Wagen zu. Fünf Griechen sitzen darin, vier Männer und eine junge Frau. Zögernd wird der Wagenschlag geöffnet. Wir blicken in fünf entsetzte, aber entschlossene Augenpaare. Warum haben die Män- ner alle eine Hand in der Tasche? Wir sind sicher: Es sind Partisanen. Ehe sie eine Unbesonnenheit begehen können, frage ich: „Bitte, ist jemand unter Ihnen, der 68 Deutsch spricht?“ Ich frage höflich, ganz gegen jede Nazi-Soldatenart. „Ja, ich“, antwortet das Mädchen. „Sagen Sie Ihren Kameraden, wir wollen Ihnen helfen. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wer Sie auch sein mögen. Aber wir werden beobachtet, deshalb möchte ich Sie bitten, uns irgendein Papier zu zeigen.“ Schnell übersetzt die Griechin. Auf allen Gesichtern malt sich Erstaunen. Ich lächele den fünfen zu, und schließlich gibt mir der Fahrer ein Papier. (Es sieht aus wie ein Krankenschein.) Ich halte das Blatt beim Lesen, deutlich sichtbar, verkehrt herum. Dann reiche ich es zurück. „Extra prima, en daxi.“ („Sehr gut, in Ordnung.“) Ein schneller Seitenblick. Unser Pimpf sitzt noch immer auf seinem Balkon. So muß also auch der Komö- die zweiter Teil beginnen: „Bitten Sie Ihre Freunde, aus- 6 zusteigen. Aber sagen Sie ihnen noch einmal, daß keine Gefahr besteht.“ Wieder werden unsere Worte übersetzt. Schnelles, erregtes Flüstern. Die Griechen sind un- schlüssig, ob sie uns trauen können. Zum Teufel, sie müssen sich beeilen, sonst wird der Leutnant mißtrauisch. Alfred findet die Zauberformel: „Aide, Synagonistes“ („Vorwärts, Mitstreiter, Genossen“). Endlich scheinen die Griechen zu begreifen, obwohl es ihnen sicherlich schwerfällt, sich vorzustellen, daß in dieser verhaßten Uniform Genossen stecken. Einer nach dem andern steigt aus, die Hand noch immer in der Tasche, in. der sich deutlich ein schwerer Gegenstand abzeichnet. Aller- dings stellen sie sich so auf, daß sie mit einem Sprung wieder im Wagen sein können. Wir klappen den Sitz hoch. Unter den Polstern ein paar Maisblätter, wir schie- ben sie beiseite. Da, eine Kiste mit fremder Aufschrift, daneben ein Packen Flugblätter.. „Kato o Fassismos!“ („Nieder mit dem Faschismus!“) können wir entziffern. Also wir haben uns nicht geirrt. Wir lachen die Griechen an und klappen den Sitz sorgsam wieder zu. „Poly en daxi“ („Sehr in Ordnung“) sagen wir anerkennend. Nur daß uns die Griechin unauffällig ein Bündel Drachmen hinhält, finden wir unschön. „Wit sind Deutsche, Fräulein, keine Nazis. Und Anti- faschisten bezahlt man nicht für ihre Tätigkeit. Sie kön- nen passieren, grüßen Sie Ihre Freunde von uns, wir kommen auch bald.“ Nun nehmt doch endlich die Hand aus der Tasche! Die Griechen sind so verwirrt, daß sie vergessen, sich zu bedanken. Das hat Nina, die mutige Andartin*, ein paar Monate später in Verria nachgeholt, * Weibliche ELAS-Angchörige. 70 Nach der Ablösung werden wir zum Leutnant befoh- len: „Das haben Sie zackig hingekriegt, die Kontrolle“, meint er anerkennend. „Die hatten ja ein eigenes Auto, das waren wohl ganz große Tiere?“ „Jawohl, Herr Leutnant, hatten erstklassige Papiere (ich denke an den Krankenschein). Die waren von der Regierung“ (von einer kommenden, setze ich in Gedan- ken hinzu). „Ich wollte eigentlich schon rüberkommen und mir die Bundesbrüder mal aus der Nähe ansehen“, meint der Leutnant. „Aber ich wollte euch die Tour nicht ver- masseln, habt doch sicher wieder allerhand Zigaretten geschlaucht, was?“ „Aber Herr Leutnant“, protestieren wir, „den Posten ist es verboten...“ „Schon gut“, sagt er, „haut ab.“ HAMMEL Unser Pimpf hat sich etwas Neues ausgedacht. Wenn ihm die Verpflegung zu eintönig wird und er Appetit auf Hammelbraten hat, werden Griechen verhaftet. Ein Kommando, wir nennen es den Proviantspähtrupp, wird zusammengestellt. Diese Wegelagerer in Uniform klappern mindestens jede Woche einmal, oft aber jeden zweiten Tag, Farsala und die Umgebung ab. Sie gehen in ein Haus und verhaften den Mann, den Vater oder den Sohn. „Er ist Partisan und kommt vors Kriegs- gericht. Sie können morgen zur Kommandantur kommen und ihm noch einmal etwas zu essen bringen“, unter- richten sie die entsetzten Angehörigen. Der Verhaftete 7ı wird gefesselt und in einen nur für diesen Zweck her- gerichteten Keller gesperrt. Um den Schein zu wahren, macht man manchmal eine Haussuchung. Wenige Stun- den später stehen die weinenden Angehörigen vor der Villa des Leutnants, und dieser erbärmliche Hammeldieb spielt eine widerliche Komödie. „Ich mußte Ihren Mann verhaften“, läßt er den vor Grauen halb gelähmten Frauen durch den Dolmetscher sagen, „weil er in drin- gendem Verdacht steht, die Partisanen zu unterstützen.“ „Mein Mann nix Partisan.“ Daß das meist zutrifft, weiß unser Pimpf ganz genau; denn die Partisanen sind in den Bergen. Eine Zeitlang, je nach Laune, weidet er sich an den Qualen der un- glücklichen Frauen. Schließlich sagt er: „Gut, vielleicht kann ich Ihren Mann noch einmal retten, obwohl ich da- durch in große Unannchmlichkeiten geraten kann. Aber sehen Sie, ich habe extra ein Wachkommando angefor- dert, diese Leute muß ich verpflegen, und das Fleisch ist mir gerade ausgegangen.“ Die meisten Frauen verstehen sofort. „Herr Leutnant, ich bringen Ihnen meinen besten Hammel, aber bitte, geben Sie mir meinen Mann wieder.“ „Das hat mit dem Hammel überhaupt nichts zu tun, sondern nur mit meiner Gutmütigkeit“, raunt der Pimpf. „Na, mal sehen, was sich machen läßt. Kommen Sie mal morgen wieder.“ Sind es Dankestränen oder Tränen der Wut, die den Frauen in den Augen stehen, wenn sie dem Leutnant die Hand küssen? Wenige Stunden später ist die Auslösung, ein fetter Hammel, da. Der Trick bewährt sich so gut, 72 daß unser Pimpf diese Art der „Partisanenbekämpfung“ später dem Spieß überläßt. Eines Abends habe ich Wache vor dem Hause des Kompaniechefs. Hauptmann Adomeit vom Bataillon ist zu Gast. Durch das geöffnete Fenster kann ich fast jedes Wort verstehen. „Ganz nett hier, bloß stinklangweilig“, bemerkt Haupt- mann Adomeit, nachdem er ein paar Erlebnisse geschil- dert hat, die er mit griechischen Frauen gehabt haben will. „Man muß es sich interessant machen“, meint unser Pimpf, „haben Herr Hauptmann schon von meinen Ham- melpartisanen gehört?“ „Nein, erzählen Sie mal.“ Ich staune: Ist der Pimpf schon so betrunken, daß er seine Geheimnisse ausplau- dert? Wahrhaftig, ohne jede Beschönigung legt er los. Ich halte den Atem an. Schade, daß ich das Gesicht des Hauptmanns nicht schen kann. „Mensch, hören Sie auf, Leutnant“, prustet der auf einmal unter glucksendem Lachen heraus, „das ist ja köstlich, Sie gehören in den Generalstab, Abteilung Ver- pflegung. Da müssen Sie mich mal einladen, wenn Sie die Weiber vorhaben. Handküsse dafür, daß Sie ihnen ihren Hammel abnehmen, und obendrein gelten Sie noch als Menschenfreund - die Idee müssen Sie sich paten- tieren lassen! Na, in meinem Bataillon ist die Geschichte morgen rum, und übermorgen essen meine Ofliziere Hammelbraten. Sehr delikat angerichtet übrigens, Ihr Braten. Persönlich ziehe ich aber Schwein vor. Ich werde eine neue Taxe aufstellen: ein Partisan gegen ein Schwein.“ 73 DIE ELAS WEHRT SICH Unsere Einheit wird verlegt. Unser Mann im Batail- lon teilt es uns mit. Nun ist damit zu rechnen, daß die einzelnen Kompanien auseinandergerissen werden und die Verständigung unter uns dadurch sehr erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wird. Leidenschaftlich diskutieren wir. Werner macht den Vorschlag loszuschlagen. Alle Voraussetzungen wären gegeben. Dieser Vorschlag scheint bestechend. Dann, nach vielen Erwägungen, lehnen wir ihn ab. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir nach Deutschland zurückkommen. In Deutschland aber kann ein meu- terndes Bataillon zum Signal werden, während hier in Griechenland eine Meuterei leicht totgeschwiegen wer- den kann. Ausschlaggebend für uns aber ist, daß eine SS-Artillerieeinheit in der Nähe stationiert ist. Im Falle einer Meuterei würde sie gegen uns und die ELAS ein- gesetzt werden. Das hieße, viele griechische Dörfer wür- den dem Erdboden gleichgemacht werden. So schwer es fällt - noch ist unsere Stunde nicht gekommen. Natürlich sprechen wir auch mit dem ELAS-Mann darüber. Er teilt unsere Ansicht. Als er erfährt, daß wir nach Kardizza kommen, macht er ein besorgtes Ge- sicht. „Erstens einmal müssen wir unsere Minen wieder wegschaffen und Anweisung geben, daß euer Transport nicht überfallen wird, denn wir sind soweit: Jetzt greift die ELAS an, und zweitens werdet ihr es sehr schwer haben, denn dort sitzen nur SS und die ‚Rallides. Ich nenne euch unsere Parole, und die ELAS wird jeden, der diese Parole kennt, als Freund betrachten. Merkt euch gut: Syto i Andattes (Es leben die Partisanen). Lebt 74 wohl, Kameraden! Auf Wiederschen in den freien Bergen.“ * MINEN Die ELAS hat versprochen, die Straße minenfrei zu machen. Sie hält ihr Versprechen. Heute ist die Straße minenfrei. Minen sind die stärkste Waffe der Partisanen. Durch Minen schützen sie ihre Dörfer vor unliebsamen Überraschungen. Die Straßenränder rechts und links zeugen für die Kampftätigkeit der ELAS: unzählige zer- störte Fahrzeuge, Panzer und Geschütze. In den Straßen selbst sind große Sprenglöcher. Aber die Wehrmacht- führung hat Erfahrung. Es dauerte nicht lange, und sie erließ einen Befehl: „Bei Transporten durch das von Banditen besetzte oder gefährdete Gebiet ist den Fahr- zeugen der Wehrmacht ein Fahrzeug mit griechischen Geiseln vorauszuschicken. Bei Überfällen durch Parti- sanenverbände sind strengste Repressalien gegen die Geiseln und deren Angehörige anzuwenden.“ In der Praxis sieht dieser Befehl so aus: Will ein Offizier von einem Ort zum anderen fahren, und sei es auch nur zu einem Saufgelage, wird in dem betreffenden Ort eine Anzahl Griechen verhaftet. Das geschicht in der Regel, indem man eine Straße absperrt und alle Griechen, gleich ob Männer oder Frauen, festnimmt. Meist geschieht das schon vierundzwanzig Stunden vorher, um die Garantie zu haben, daß die Partisanen von diesem Schritt unter- fichtet werden. Die verhafteten Einwohner lädt man auf einen großen Lastkraftwagen, und dieser fährt der deutschen Kolonne in etwa zwanzig bis fünfzig Meter Entfernung voraus. Bei längeren Strecken nimmt man 75 zwei oder drei Fahrzeuge, um bei Ausfall Ersatz zu haben. Diese brutale Sicherungsmethode beantwortet die ELAS sehr einfach. An Stelle von Druckminen werden nun Zeitminen und geballte Ladungen verwandt. VERRÄTER Unsere „Speckjäger“ und die Stammannschaften sind mit dem Stellungswechsel gar nicht einverstanden. Zwar gibt es in Kardizza ein Bordell, ein Kino und etliche Kneipen, aber mit „Organisieren“ ist es hier nichts — alles abgegrast. Kardizza hat etwa 15 000 Einwohner, es ist unzerstört und herrlich gelegen. Herr über die Stadt ist eine Bande von achtzig Rallis-Faschisten, arbeitsscheue, herunter- gekommene Elemente. Kardizza ist ihre Hochburg. Bis an die Zähne bewaffnet, in Trupps von zehn Mann, durch eine blaue Armbinde kenntlich gemacht, streifen die Rallides durch die Straßen. Überall lösen sie Angst und Entsetzen aus. Die Händler wagen nicht, sich zu “ widersetzen, wenn die Rallides sie ausplündern. Wer Schwierigkeiten macht, ist „Kommunist“ und wird der „verdienten Strafe“ zugeführt. Meist erschießen die Rallides an Ort und Stelle. Es liegt ein Wehrmacht- befehl vor: „Den griechischen Freiwilligenverbänden (Evzonen) ist bei der Bekämpfung des Banditentums jede Unterstützung zu gewähren.“ Gleich bei unserer Ankunft in Kardizza lernen wir ein paar von diesen „Freiwilligen“ kennen. Die Wagen halten. Wir‘steigen ab, um uns ein wenig die Beine zu 76 vertreten. Da nähern sich uns zwei sympathisch aus- schende griechische Jungen. Sie bitten um Feuer, bieten Zigaretten an und versuchen, mit uns ins Gespräch zu kommen. Sie sprechen ziemlich gut Deutsch, Woher wir kämen, wollen sie wissen, wie es uns gefalle. Wir gehen ein Stück abseits, um ungestört reden zu können. Da stürzen drei Evzonen auf uns zu: „Cheil Chitler, Kameraden!“ begrüßen sie uns mit der obligatorischen Armverrenkung. „Wir extra prima, wir gut auf alles Deitsche. Kamerad, bitte ihr nicht glauben dieses beide“, radebrechen sie und zeigen auf die Jungen. „Nicht reden mit ihnen, die nur wollen spionieren für Banditen. Er- lauben Sie, wir gleichen werden verhaften“, und sie machen Micne, mit ihren Reitpeitschen auf die Jungen loszuschlagen. Wir sehen uns um. Gott sei Dank, wir sind unter uns. „Ihr seid ja besoffen“ (das waren die Rallides immer), fahre ich sie an. „Wer Banditen sind, bestimmen wir, haut ab“, und um dem Nachdruck zu verleihen, ent- sichern wir unsere Gewehre. Verdutzt geben die Rallides Fersengeld. „EIERHANDGRANATEN MITNEHMEN!“ Erich Davideit ist verschwunden, eigenmächtig, ent- gegen unseren Anordnungen. Nur’weil man im Bataillon nicht ganz sicher ist, ob er übergelaufen ist oder aber entführt wurde, bleibt die Geschichte vorerst für uns ohne ernste Folgen. Doch Erich Klose war ein enger Freund von Davideit. Ein Krimineller macht sich daraus einen Vers und meldet der Kompanieführung: „Die 77 beiden stecken unter einer Decke, und auch Klose wird wohl demnächst überlaufen.“ Von unserem Mann im Stab erfahren wir, daß Erich Klose verhaftet werden soll. Er muß also weg und läuft über. Diesmal hat es Folgen. Antreten wird befohlen. „Setzt die Gewehre zusammen! - Stillgestanden!“ Plötzlich ist auf einmal eine SS-Einheit da. Die SS-Leute entsichern ihre Karabiner. „Die dritte Kompanie wird Entwaffnet und bis zur Klärung der Vorfälle gefangengesetzt.“ Wird es ernst werden? Nein, das drohende Unwetter zieht vorüber. Nur zwei Kriminelle bleiben in Haft. Man hat bei ihnen den blauen Ausschließungsschein gefunden, obwohl es streng verboten ist, ihn in Besitz zu haben. Die dritte Kompanie bekommt ihre Waffen wieder. Aber wir sind gewarnt und geben Befehl durch: „Zu jedem Appell Eierhandgranaten mitnehmen.“ RALLIDES, NÜCHTERN Kardizza soll von der Wehrmacht geräumt werden. Und nun hebt bei den Rallis-Faschisten Heulen und Zähneklappern an. Sie flehen: „Liefert uns nicht dem . Terror der Kommunisten aus!“ Die Bevölkerung aber atmet auf, obwohl die faschi- stische Zeitung „Estia“ noch zwei Tage vor unserem Rückzug schreibt: „Die Deutschen bleiben in Kardizza.“ Wir räumen unsere Quartiere, abfahrbereit stehen die Wagen auf dem großen Marktplatz. Zum erstenmal sind die Rallides nüchtern. „Sie müssen bleiben“, betteln sic, „lassen Sie uns bitte ein Kommando zurück. Wenn Sie heute gehen, wir morgen alle kaputt“, und sie machen das Zeichen ges Aufhängens. „Nehmen $ie uns bitte mit. 78 Wir werden mit Ihnen kämpfen gegen Kommunismus bis in Berlin.“ „Wozu habt ihr denn Waffen?“ schreit unser Leutnant sie an. „Wir lassen cuch ja extra hier, damit ihr gegen den Bolschewismus kämpft!“ „Herr Leutnant, Partisanen auch viel Waffen. Wir viele Feinde in Kardizza.“ Zum ersten Mal lügen sie nicht, 15000 Griechen sind ihre Feinde. „Dann geben Sie uns wenigstens Waffen, geben Sie uns ein Geschütz und Munition, damit wir leben können bis kommt Englesi.“ Die „Englesi“, die Engländer, die Imperialisten, sind die einzige Hoffnung der Faschisten. Nicht nur damals und nicht nur in Kardizza. Umsonst betteln die Rallides. Jedes Gewehr und jedes Geschütz wird gebraucht. Der Feind liebt den Ver- rat und verachtet den Verräter. Als wir aus Kardizza hinausfahren, schen wir das Volk auf den Straßen tanzen. Kaum hat der letzte Wagen die Stadt verlassen, zieht von der anderen Seite, umjubelt von allen, die Freiheitsarmee ein. Kardizza ist wieder griechisch. DER ENTSCHEIDUNG ENTGEGEN Volos, eine griechische Hafenstadt, ist unser neuer Standort. Zuerst kommen fast alle Kompanien in eine Unterkunft. Das ist eine günstige Gelegenheit, um sämt- liche Probleme durchzusprechen. Da wir damit rechnen müssen, daß unser Zusammenbleiben hier nur von kurzer Dauer ist, treffen wir gründliche Maßnahmen, um uns, wenn nötig, auch über weite Strecken hinweg, verstän- 79 digen zu können, denn die militärische Lage hat sich schr verändert. Es bereitet der Wehrmacht große Schwierig- keiten, die Verbindung zwischen den einzelnen Orten aufrechtzuerhalten. Während die Partisanen in der Lage sind, von einem Ende des Landes zum anderen zu tele- fonieren, weil ihre Leitungen durch die Berge führen, werden die Leitungen der Wehrmacht immer wieder von Partisanen zerschnitten, abgeklemmt oder angezapft. Außerdem sind die Telegrafenstationen ständiges An- griffsziel der ELAS. Auch der Kurierdienst läßt sich bei der Unsicherheit der Straßen nur noch mit großer Mühe aufrechterhalten. Von all dem müssen wir uns möglichst unabhängig machen. Wir vereinbaren ein Stichwort. Dieses Stichwort zusammen mit der X-Zeit ist das Signal zum Losschlagen. Nur die Kompanieleiter wissen, daß die X-Zeit einundeinhalb Stunden früher bedeutet. Also wenn durchgegeben wird, morgen früh sechs Uhr dreißig, so heißt es fünf Uhr. Die Kameraden verpflichten sich, alle Vorarbeiten auf- zunehmen, das heißt von jedem einzelnen Stützpunkt Verbindung zur nächsten ELAS-Einheit herzustellen, um diese rechtzeitig von unserem Eintreffen in Kenntnis zu . setzen. Wir bestimmen, daß diese Aktion im Laufe der nächsten drei Wochen stattfindet. Nähere Einzelheiten sind nur den Leitern der Gruppen bekannt, und trotz der großen Verantwortung, die jetzt auf'uns lastet, atmen wir doch erleichtert auf. Es geht der Entscheidung ent- gegen! Nur ein Zug der zweiten Kompanie macht uns Sorgen. Er wurde zur Bewachung eines Gefangenen- lagers zurückbehalten. Wie gut, daß Hans bei diesem Zug ist, er wird dafür sorgen, daß alles seinen richtigen Gang geht. 80 - EIN „VERSCHLEPPTER“ Ein paar Tage später erreicht uns die Nachricht, Hans ist von den Partisanen verschleppt worden. Wir sind be- unruhigt. Im Bataillonsstab heißt es: „Der Schütze Hans G. ist bei der Ausübung seines Dienstes, das heißt bei der Beaufsichtigung griechischer Gefangener und Zivil- internierter, von Banditen niedergeschlagen und ver- schleppt worden.“ Die Stammannschaften lächeln höhnisch: „Seht ihr, so gehen die Partisanen mit euch Politischen um. Nieder- geschlagen und verschleppt. Wenn ihr wüßtet, was der arme Kerl jetzt durchmachen muß.“ Der arme Kerl? Nun, etwas später wußten wir es genau. Hans hatte Befehl, etwa fünfzehn Griechen in einem Steinbruch bei der Arbeit zu beaufsichtigen. Natürlich merkten die Griechen schon nach wenigen Tagen, daß er kein Nazi war. Gegenüber einem von ihnen ließ Hans durchblicken, daß er nichts dagegen hätte, wenn sie eines Tages durch eine Gewaltaktion befreit würden. Der Grieche verstand den Wink und gab Hans die Adresse von Leuten, mit deren Hilfe die Befreiung be- werkstelligt werden konnte. Eines Tages tauchten aus dem Maisfeld um den Steinbruch fünf Partisanen auf. Sie stürzten sich auf Hans, denn es waren nicht die von ihm informierten, und sie wußten also auch nichts von seiner wirklichen Einstellung. Doch die Gefangenen stellten sich schützend vor ihn. Nach kurzem Wort- wechsel waren die ELAS-Leute überzeugt. Sie fragten Hans, ob er mitkommen oder dableiben wolle. Hans wollte, entsprechend unserer Anweisung, dableiben. Er 83367 83 wäre auch dageblieben, wenn er nur einen Strick besessen hätte, einen Strick, um sich fesseln zu lassen. Wie sollte er sonst die Flucht der Gefangenen erklären? Es erwies sich, daß die ELAS-Leute Erfahrung hatten. Sie machten aus dem Platz einen Kampfplatz. Und ein Andarte brachte sich sogar eine geringfügige Verletzung bei, um, der Vollständigkeit halber, ein paar Blutspuren zu hinterlassen. Ein zerrissenes Kleidungsstück von Hans blieb ebenfalls zurück, und ab ging es - in die Berge. EIN HUSARENSTÜCK Fünf Kilometer von Volos entfernt liegt der Kurort Agria zu Füßen eines Berges, inmitten von großen Olivenhainen und Obstgärten, an der Küste des Ägä- ischen Meeres. Wir stehen hier auf vorgeschobenem Posten; die nächste Ortschaft liegt bereits im Herrschaftsbereich der ELAS. Unsere Befürchtung, wir würden gegen dieses Dorf zum Einsatz kommen, erweist sich als unbegründet. Die Zeiten haben sich geändert, die Wehrmacht hält sich in respektvoller Entfernung und ist zufrieden, wenn sie " nicht selber angegriffen wird. Noch vor einem halben Jahr hätte sich die ELAS das folgende Husarenstück nicht ungestraft erlauben dürfen: Agria ist mit Volos durch eine Kleinbahn verbunden, deren Geleise an der Küste entlangführen, in das Parti- sanengebiet hinein. Die Partisanen verfügen über einen Zug, es fehlt ihnen nur noch die Lokomotive. Als eines Tages ein Lokführer hundert Meter aus Agria hinaus- fährt, stehen neben ihm zwei Partisanen, die ihn zum 82 Aussteigen zwingen und die Lokomotive ins Partisanen- gebiet entführen. Ungeheure Aufregung herrscht. Die Partisanen be- reiten einen großen Überfall vor, heißt es. Unter Be- deckung einer Kompanie wird ein Sprengkommando aus- geschickt mit der Weisung, die Schienen bis fünfhundert Meter vor Agria in die Luft zu jagen. Angst und Unsicherheit in der Wehrmacht wachsen. Um so mehr, als die Nazis, diese „gewiegten“ Strategen, nicht in der Lage sind, Taktik und Strategie einer Frei- heitsarmee richtig einzuschätzen. Wir Antifaschisten bleiben ruhig. Unser Dienst - viel Postenschieben - ist erträglich, doppelt erträglich, da wir bereits wieder Verbindung zu den Partisanen haben, diesmal durch Maria und ein anderes griechisches Mäd- chen Wir wissen, daß Agria nicht angegriffen werden wird. HEIMAT 5.30 Die Revierstube in Volos wird jeden zweiten Tag von einem unserer Leute aufgesucht. Hier ist Gelegenheit, mit den Kameraden aus den anderen Kompanien die Lage zu besprechen. Die Verbindungsleute aus der ersten und vierten Kompanie berichten: „Es ist Zeit zum Losschlagen.“ Es ist auch wirklich Zeit. Nur können wir gerade jetzt die dritte Kompanie nicht er- reichen. Aber es muß gehandelt werden; denn der Rück- zug steht bevor, und wir wissen, wie ein solcher Rück- zug aussieht. Daher beschließen wir: X-Zeit um fünf Uhr dreißig am andern Morgen. An alle Kompanien wird durchgegeben: Heimat 5.30. Die dritte Kompanie soll über die Partisanen verständigt ” 83 werden. Diesmal kann ich die Rückkehr zur Kompanie kaum abwarten. Eine fieberhafte Tätigkeit beginnt. Zu- erst müssen die Partisanen unterrichtet werden, damit sie uns, wenn wir uns nähern, nicht mit einer Strafexpedition verwechseln. Um jede Einzelheit besprechen zu können, beschließen wir, einen Delegierten zu schicken. Für Hans Mühmel wird eine zusätzliche Garnitur be- sorgt. In der ganzen Kompanie ist er als Wasserratte bekannt, denn er verbringt jede dienstfreie Minute im Meer. Er soll „ertrinken“. In der heißen Mittagsstunde geht selten jemand baden, also sieht auch niemand, wie Hans seine Uniform am Strand hinlegt und sich auf den Weg in die Berge macht. Zwei Stunden später wird der Kompanie gemeldet: Soldat Mühmel beim Baden er- trunken. Daß die Todesanzeige an die Angehörigen nicht abgeht, dafür sorgt unser Verbindungsmann im Bataillonsstab. Am selben Abend erfahren wir durch Maria, daß Hans Mühmel gut angekommen ist und daß wir erwartet werden. Alle unsere Vorbereitungen sind jetzt abge- schlossen; die Trupps sind eingeteilt, und jeder weiß um seine Aufgabe: * ‚Ich muß die Telefonleitung mit Agria durch- schneiden.“ „Wir müssen mit unserem Pakgeschütz die Straße sichern.“ „Unsere Gruppe besetzt die Schreibstube.“ „Unsere Gruppe entwaffnet die Offiziere.“ Doch es kommt etwas dazwischen. Das Verfahren gegen Karl Fladerer soll heute eröffnet werden. Es sind vier Wochen vergangen, seit der junge Österreicher laut 84 erklärte, daß Soldaten keine Räuber sein dürften. Nun ist es soweit. Beim Bataillon liegt eine Meldung, Karl Fladerers Todesurteil. Karl kennt den Termin unserer Aktion nicht, doch selbst wenn er ihn kennen würde, er darf nicht mehr bleiben. Er muß verschwinden. Aber er beging einen Fehler. Er zog einen Kameraden ins Vertrauen und sagte zu ihm: „Du, ich gehe zu den Partisanen. Die anderen kommen bald nach, es ist schon alles vorbereitet.“ Der Soldat Martinak - wir hatten ihn bewußt nie ins Vertrauen gezogen — hält Karls Mitteilung für eine Falle. Zum Schein sagt er zu, läuft aber sofort zum Kompanie- chef: „Herr Leutnant, der Fladerer hat mich aufgefor- dert, mit ihm zu den Partisanen zu gehen.“ Der Leutnant lächelt ungläubig. „Bestimmt, Herr Leutnant“, wieder- holt Martinak. „Im Bataillon besteht eine Terrorgruppe, die geschlossen überlaufen will.“ Martinaks schnelles Verschwinden hat Aufsehen erregt. Warum läuft er zum Kompaniechef, fragen sich die Kameraden. Unauffällig folgt ihm einer. Am offenen Fenster der Schreibstube hört er mit. Jetzt ist größte Eile geboten. In fliegender Hast grei- fen dreizehn Mann, darunter auch Karl Fladerer, nach ihren Gewehren. Keine Sekunde zu früh, denn schon nähert sich eine Gruppe Unteroffiziere, die den Schützen Fladerer verhaften wollen. Am Dorfausgang stoßen die beiden Gruppen aufeinander. Die Unterofliziere eröff- nen das Feuer, aber gleich darauf müssen sie in volle Deckung gehen. Die dreizehn schießen zurück, unter- stützt von einem Trupp Partisanen, der Karl Fladerers Gruppe entgegengekommen ist. 85 In der Kompanieschteibstube herrscht ungeheure Auf- regung. Droht eine Meutcrei? Martinak wird mit allen Schikanen verhört: „Wer ist der Anführer der Meuterer- gruppe?“ Martinak weiß nicht das geringste von unserer Organisation. Der Offizier zieht die Pistole. „Wenn Sie nicht sofort die Namen nennen, schieße ich Sie über den Haufen!“ Und nun nennt der Schütze Martinak, um irgend etwas zu „gestehen“, die Namen der Kameraden, mit denen et in Baumholder auf einer Stube gelegen hat. Mich nennt er als Anführer. Der Leutnant verlangt ein dringendes Dienstgespräch mit dem Bataillon. Der Bataillonschef befiehlt: Alle Be- schuldigten sofort verhaften, alle Sicherheitsmaßnahmen zur Unterdrückung einer Meuterei ergreifen. Alle Viertel- stunden berichten.“ Es wird eine unruhige Nacht werden. WIR GEHEN HOCH Es geschieht öfter, daß ich als Melder zur Schreib- stube gerufen werde. Doch als mich heute.der Feld- webel abholt, schöpfe ich Verdacht, denn ich glaube, ein verdächtiges Zittern in seiner Stimme gehört zu haben. Sofort fällt mir wieder Berislaw ein. Ich kann noch schnell Werner beiseite nehmen und ihm zuflüstern: „Irgend etwas stimmt nicht.“ Werner fragt eilig zurück: „Sollen wir jetzt schon los- schlagen?“ „Nein“, antworte ich, „vielleicht sind sie gewarnt.“ . . 86 Vor der Schreibstube sitzen Offiziere und Unterofi- ziere, Maschinenpistolen auf den Knien, Handgranaten im Koppel. Nun scheint alles verloren. „Wie befohlen zur Stelle“, melde ich mich. Mit bleichem Gesicht sitzt der Pimpf am Telefon. Ent- sichert liegt eine Pistole vor ihm auf dem Tisch. „Hände hoch!“ brüllt er. „Durchsuchen!“ befichlt er einem Unter- offizier. Alles wird mir abgenommen, sogar das Taschentuch. Ich sche mich um und zucke zusammen. Da sitzen sieben Mann, alles Angehörige unserer Organisation. Ich will eine Frage stellen. „Schnauze halten, runter in den Keller!“ Diesmal scheint es keinen Ausweg zu geben. Wir wissen nichts, können nur Vermutungen anstellen. Unan- genehm ist besonders, daß Karl eine Mittelohrentzün- dung hat und sehr schlecht hören kann. Es erschwert unsere Unterhaltung sehr, denn unmittelbar vor der Tür steht der Posten. Als wir nach vielen Stunden zum Austreten geführt werden, stellt uns der Feldwebel eine plumpe Falle. Wie zufällig steht im Kellergang ein gespannter Karabiner: Ich könnte wetten, daß er ungeladen ist. Der Feldwebel hofft, wir würden die „günstige Gelegenheit“ ausnutzen, ihm den Karabiner vorhalten und zu entkommen ver- suchen. „Aber Herr Feldwebel“, sage ich nur vorwurfsvoll, „in Gegenwart von Gefangenen dürfen doch keine herren- losen Waffen herumstehen.“ „Zackig“, meint der Feldwebel. Er lacht. „Sie machen uns noch am Pfahl. darauf aufmerksam, daß die Hände nicht nach der Heeresdienstvorschrift gebunden sind.“ 87 Die Stunden vergehen sehr langsam. Ob unsere Kameraden draußen etwas unternehmen können? Bei der Postenablösung vor unserer Tür fragt der eine: „Hast du schon gehört, Werner und Eugen sind auch ge- türmt.“ Werner und Eugen? Die ganze Geschichte wird immer undurchsichtiger. Beim Morgengrauen poltert eine Begleitmannschaft in den Keller. „Fertigmachen, nach Volos zur Verneh- mung!“ In der Kommandantur in Volos laufen alle durcheinander. Fritz Eidner, ein Hamburger Kumpel, der Fahrer des Hauptmanns, drängt sich an mich heran und flüstert mir zu: „Martinak hat euch verpfiffen. Sie wissen überhaupt nichts.“ „Schütze B. zur .Vernehmung!“ Ich stehe vor dem Abwehroffizier. Er gibt sich zuerst äußerst freundlich, doch das kenne ich von der Gestapo her. „Wie denken Sie über das Überlaufen?“ fragt er plötzlich. „Das wäre eine Gemeinheit, Herr Leutnant, denn... .* „Das wagen Sie zu sagen?“ fällt er mir wütend ins Wort. „Sie, der Anführer einer Meuterergruppe. Wir haben eine Haussuchung bei den Partisanen durch- geführt“, belehrt er mich, „und dort fanden wir eine Liste von achtzig Meuterern.“ Seine Stimme überschlägt sich fast vor Wut. „Ihr Name steht als erster auf dieser Liste und Anweisungen, aus denen hervorgeht“, der Leutnant kreischt, „daß Sie die Offiziere umbringen und zu den Banditen gehen wollen.“ Dem Herrn Leutnant fehlt viel zum Menschenjäger. Der kleinste Gestapomann würde lachen über diese plumpe Vernehmung, Ich atme erleichtert auf. In der Illegalität gibt es keine Listen, und gäbe es diese famose Anweisung, dann ständen hier achtzig Mann. 88 “ „Nur ein Geständnis kann Sie noch retten“, unterbricht der Leutnant meinen Gedankengang. „Was haben Sic zu sagen?“ „Herr Leutnant, das Ganze ist so unsinnig, daß ich dazu nichts sagen kann. Wenn Sie mir von diesen An- schuldigungen auch nur das Geringste nachweisen, will ich gern die schwerste Strafe auf mich nehmen“, be- teuere ich. „Das sowieso“, schreit der Leutnant, „in ein paar Tagen stehen Sie an der Wand. Raus!“ 89 Die Vernehmung scheint ihn so mitgenommen zu haben, daß er zehn Minuten Pause macht. (Wieder gegen alle Gestaporegeln.) Ich habe Gelegenheit, die Kame- raden zu informieren. Nach zwei weiteren Vernehmun- gen gibt es der Leutnant auf. „Abführen zum Kriegs- gerichtsgefängnis!“ „SCHWERE JUNGEN“ Das Gefängnis in Volos war immer stark belegt. Aber so „schwere Jungen“, wie wir es sind, hat es lange nicht beherbergt. Deshalb werden wir auch in einer Extra- zelle untergebracht, die genug Platz für acht Mann bietet. Die Herren vergessen sogar, einen Spitzel zu uns zu legen. Zu unserer Bewachung ist der dritte Zug der ersten Kompanie abkommandiert, Karl Alex tritt in unsere Zelle und meldet: „Stellvertretender Kompanie- führer Karl Alex mit dreißig Mann zur Stelle! Alles trägt grüne Schlipsel“ Und die augenblicklich gefangengesetzten Angehörigen des Stabes ordnen an: „Alle ‚Kompanieführer‘ sofort zur Lagebesprechung. Ihr übernehmt die Sicherung der Zelle gegen jede Überraschung.“ - Es dauert nicht lange, da finden sich die „Kom- panieführer“ ein. Wir, die Verhafteten, und die bereits Übergelaufenen sind ersetzt worden. Die Dienstältesten sind aufgerückt, das Dienstalter zählt nach Zuchthaus jahren. Artur Witt, ein Student aus Kiel, hat die Ge samtleitung übernommen. Zum ersten Mal können wir ungestört eine Lagebesprechung durchführen. Zum ersten Mal aber auch können wir uns nur schwer einigen. % Wir, die Gefangenen, sind dafür, loszuschlagen. Die Kameraden widersprechen. „Das bedeutet, daß ihr acht Mann sofort erschossen werdet.“ „Wir sind acht, und draußen sind vierhundert. Han- delt, als wären wir nicht da!“ „Mit Recht würden uns später die Genossen Vor- würfe machen.“ Die Besprechung wird vertagt. Noch einmal wollen die Kameraden die Lage überprüfen, doch morgen muß ein Beschluß gefaßt werden. In unsere Angelegenheit ist auch ein Unteroffizier ver- wickelt. Er war mit Karl Fladerer befreundet und hat nach dessen Überlaufen allen erzählt, daß er zusammen mit Karl mit den Partisanen verhandelt hätte. Angeb- lich wollte er Karl nur aushorchen und die ganze Ver- schwörung auffliegen lassen. Auf Grund dieser dummen Rederei wird er verhaftet, ‘denn es liegt ein Befehl vor, der eindeutig besagt: „Jedes Bekanntwerden von Zer- setzungstätigkeit ist sofort dem nächsthöheren Vor- gesetzten zu melden.“ Jetzt sitzt der Unteroffizier völlig zusammengebrochen in seiner Zelle. Bei der nächsten Lagebesprechung machen die Kame- raden einen brauchbaren Vorschlag. Da uns das Kriegs- gericht zweifellos zum Tode verurteilen wird, soll die Aktion mit dem Zeitpunkt unserer Erschießung zusam- menfallen. Zu der Erschießung werden Freiwillige heran- gezogen, Kameraden sollen diese Aufgabe übernehmen. Die anderen Angehörigen unserer Organisation — zwei- fellos werden zu dieser Erschießung alle Kompanien zum Zuschauen abkommandiert - sollen sich mit Hand- granaten bewaffnen. Auf das Kommando „Feuer“ wird geschossen werden, aber in eine andere Richtung. 91 Dieser Plan scheint uns allen der einzige Ausweg. Wir besprechen jede Einzelheit. Die ELAS hat bereits zu- gesagt, einige Gruppen in die Nähe des außerhalb der Stadt gelegenen Hinrichtungsplatzes zu schicken. Wir acht Mann sind in Volos berühmt geworden. Die ganze Stadt spricht von uns. Auch viele Landser scheinen nachdenklich zu werden. Es sind nicht wenige, die meinen: „Wenn wir wüßten, daß uns die Partisanen anständig behandeln, würden wir auch in die Berge gehen. Aus dem Sack hier kommt ja doch keiner mehr raus.“ An jeder Straßenecke stehen griechische Kinder, die den Soldaten zurufen: „Komm, Kamerad, parti Parti- san, Partisan extra prima.“ Es ist bezeichnend für die veränderten Zustände, daß die Kinder diese Aufforde- rung so offen laut werden lassen können. Zwei Tage vor unserem Prozeß läuft noch eine Gruppe zu den Partisanen über. Alex Bock hatte - die Gruppe lag auf vorgeschobenem Posten - keine Verbindung mehr zur Organisation. Das voreilige Überlaufen macht er durch den Zettel wieder wett, den er hinterläßt: „Wir flächten, um nicht noch einmal den fürchterlichen Keller von Berislaw zu erleben.“ Das stiftet Unruhe und Ver- wirrung bei den Herren Offizieren. Sie fürchten eine Panik und geben Befehl, jeden Soldaten anständig zu behandeln oder, wie es in ihrer Sprache heißt, jede un- nötige dienstliche Überspitzung oder Überbeanspruchung möglichst zu vermeiden, Es ist eine kritische Situation für den Herrn Stadtkommandanten von Volos. Der größte Teil seiner Soldaten und Unteroffiziere hat die Schnauze voll. Sichtbare Beweise der Tätigkeit der Anti- faschisten sind nicht mehr zu übersehen. Die mili- tärische Lage ist auch nicht gerade rosig. Die griechische 92 Freiheitsarmee bedroht nicht nur Volos, sondern auch den bevorstehenden Rückzug. Mit „Durchgreifen“ ist auch nichts mehr zu machen. Als uns die Feldpolizisten abholen, um uns zum Kriegsgericht zu‘bringen, meinen sie: „Das ist bloß noch eine Formsache. Die Pfähle für euch sind schon auf dem Schießplatz eingerammt.“ DER PROZESS Vor unserer Verhandlung beginnt die Verhandlung gegen den Unteroflizier. Sie dauert nicht lange. „Selbst dann, wenn Sie die Absicht gehabt hätten, die bolschewistische Untergrundorganisation auszuheben, hätten Sie unbedingt einem Vorgesetzten davon Mit- teilung machen müssen“, erhält der Unteroflizier seine letzte militärische Belehrung. Das Urteil wird gefällt: „Im Namen des Obersten Befehlshabers der Wehr- macht: Der Unteroffizier Vollmer, ist zum Tode durch Erschießen verurteilt.“ Der Unteroffizier schreit auf, er weint wie ein Kind. Will er Mitleid erregen? Vor einem Kriegsgericht? Der Kriegsgerichtsrat fährt ihn an: „Unteroffizier Vollmer, benehmen Sie sich anständig, zeigen Sie gefälligst Haltung als deutscher Soldat!“ Zwölf Stunden später stand der Unteroflizier am Pfahl. Seine Kameraden, mit denen zusammen er noch vor wenigen Tagen im Bordell war, führten den Befehl aus: „Zur Salve! Legt an! Feuer!“ Und die Eltern des Unteroffiziers Vollmer erhielten einen Brief: „Für Führer und Volk fiel...“ Nach kurzer Pause werden wir vorgeführt. Wir sind auf alles gefaßt. Doch die Herren Kriegsgerichtsräte 95 machen einen ziemlich nervösen Eindruck. Nun, das ist verständlich. Erstens haben sie eine lange Autofahrt auf verminten Straßen hinter sich, und zweitens wissen sie nicht recht, wie sie den Prozeß führen. sollen. Frei- sprechen können sie uns nicht, das würde ihre Schwäche zu eindeutig bekunden. Uns zum Tode verurteilen, das wagen sie nicht, denn unsere Erschießung würde in Volos große Beunruhigung hervorrufen und das schon jetzt herrschende Chaos noch vergrößern. Außerdem wollen sie unbedingt feststellen, welche Verbindungen wir zur ELAS, aber auch zu deutschen Einheiten haben; doch das sprengt den Rahmen des Prozesses. Deshalb kommt alles anders, als wir erwartet haben. Ich werde vernommen. Schütze Martinak ist Zeuge. Alles geht schr schnell ab. Und siche da, sie haben eine Lösung gefunden: „Das Kriegsgericht sieht sich auf Grund der beson- deren Umstände nicht in der Lage, die Beschuldigungen hinreichend zu klären. Die Angeklagten werden deshalb zur sondergerichtlichen Behandlung nach Deutschland übergeführt.“ Nun kann das Hohe Gericht schnell in seinen sicheren Standort zurückkehren, und wir wissen, daß auf dem tausend Kilometer langen Weg nach Deutschland sich viele Gelegenheiten zum Entkommen bieten werden. Übrigens, der Schütze Martinak erhält eine Belobigung. Er wird „wehrwürdig“ gesprochen. DIE LETZTEN STUNDEN Wir werden zurück ins Gefängnis gebracht. Haben wir vorher schon viel Besuch gehabt, so können wir uns 94 jetzt kaum noch retten. Immer wieder wollen die Landser wissen: Wie wird man bei den Partisanen be- handelt? Die Greuelpropaganda wirkt nicht mehr. Viele Soldaten haben die Aussichtslosigkeit der Lage erkannt. Nur die Angst vor den Partisanen hält sie noch ab, sich in Gefangenschaft zu begeben. Daß wir im Gefängnis so ungehindert mit den Land- sern reden können, daran ist die gute alte preußische Ordnung schuld. Verantwortlich für das Gefängnis ist das Kriegsgericht. Aber das Kriegsgericht sitzt in Larina. Unser Hauptmann aber ist Stadtkommandant geworden. Also unterstcht ihm das Gefängnis. Wahrscheinlich glaubt das Kriegsgericht, daß der Stadtkommandant seine Pflicht tut, und der Stadtkommandant meint, das Kriegsgericht erfüllt seine Aufgabe. Nun, diese Kom- petenzschwierigkeiten machen uns kein Kopfzerbrechen. Die Kameraden gratulieren uns zu der Entscheidung des Kriegsgerichts. Jetzt wollen sie handeln. Die Tage der Wehrmacht in Volos, ja, in ganz Griechenland, sind gezählt, ‚Der Rückzug wird vorbereitet. Außerdem ist die Verbindung mit Deutschland. unterbrochen. Parti- sanen haben die Funkstation zerstört. „Schütze X. zum Feind übergelaufen, Angehörige ver- haften“, das geht nun nicht mehr. Wir geben durch: „Fertigmachen zum Abmarsch.“ Und verabschieden uns von den Kameraden: „Auf Wiedersehen in den Bergen.“ Aufgeregt stürzen einige Landser zu uns ins Gefäng- nis. „Da habt ihr eure Partisanen, seht euch die Toten an, wie sie die zugerichtet haben!“ Auf’ dem Marktplatz liegen achtundzwanzig Soldaten feierlich aufgebahrt. Sie sind mit einem Ehrengeleit ein- geholt worden. Alle Wehrmachtangehörigen erhalten Be- 95 fehl, sich die Toten anzusehen. Auch wir. Ein entsetz- licher Anblick bietet sich uns. Achtundzwanzig grausam verstümmelte Leichen, mit ausgestochenen Augen, abge- schnittenen Nasen und Geschlechtsteilen. Nach zwei Stunden plötzlich ein Befehl: „Die Toten sofort weg- räumen und beerdigen!“ Wir sind gewiß, es steckt eine abscheuliche Gemein- heit dahinter. Volos ist in der ganzen Welt berühmt durch seine Zigarettenindustrie. Eine der riesigen Fabriken, sie be- schäftigt über tausend Arbeiter, soll in die Luft ge- sprengt werden. Das bedeutet, daß den Arbeitern und den tabakliefernden Bauern die Existenzgrundlage zer- stört wird. Doch danach fragt die Wehrmacht nicht. Sie muß sich zurückziehen. Also muß auch die Fabrik ver- schwinden. Plötzlich ist ganz Volos auf den Beinen. Trotz des Belagerungszustandes ziehen die Arbeiter durch die Stadt, stürmen die Fabrik, reißen die bereits gelegten Zündschnüre heraus und bilden einen Kordon um den Betrieb. Er liegt ganz in der Nähe des Gefängnisses. Wir trauen unseren Ohren nicht, als wir die unvergessene Melodie des Liedes „Brüder, zur Sonne, zuf Freiheit“ hören. Wir blicken durch die Gitterfenster hinaus. Da unten demonstrieren sie, allen voran die Jugend, demon- strieren trotz der schußbereiten Maschinengewehre an jeder Straßenecke. Beim Stadtkommandanten meldet sich ein Parlamentär der ELAS. Er stellt ein Ultimatum: „Wird die Fabrik in die Luft gesprengt, so wird die ELAS jeden deutschen Offizier, der in ihrer Gewalt ist oder den sie noch gefangennehmen wird, als Kriegs- verbrecher hinrichten.‘“ Dieses Ultimatum wirkt. Die 9% Fabrik wird nicht gesprengt. Doch nicht so ohne weiteres. Als „Lösegeld“ fordert die Wehrmacht ungeheure Men- gen von Zigaretten. DAS DYNAMITSCHIFF Rückzug auf der ganzen Linie. Volos wird Sammel- punkt für Südgriechenland. Ein Schiff nach dem anderen macht im Hafen fest. Auch unser Gefängnis füllt sich. Unter anderem treffen dreißig zum Tode Verurteilte ein, deren Urteil noch nicht bestätigt ist, und über hundert Landser, die längere Freiheitsstrafen zu verbüßen haben. Sie waren mit zwei Schiffen eingetroffen, eines beladen mit Lebensmitteln und Kriegsmaterial, das andere bela- den mit Dynamit. Eng zusammengepfercht waren die Verurteilten im Laderaum des Dynamitschiffes unter- gebracht. Das Dynamitschiff fuhr voraus. In einiger Ent- fernung folgte das andere. Die auf ein Mindestmaß reduzierte Mannschaft des Dynamitschiffes wurde alle zwei Stunden abgelöst, Flieger tauchten auf. Sie kamen aus der Sonne, flogen das Dynamitschiff an, flogen dar- über hinweg, warfen ihre Bomben und trafen das zweite Schiff. Die Gefangenen werden zuerst ausgeladen und unter scharfer Bewachung in unser Gefängnis eingeliefert. Noch während der Begrüßung heulen die Sirenen: Flie- geralarm! Neun Flugzeuge nähern sich, und bevor je- mand begreift, was los ist, brennen alle im Hafen liegen- den Schiffe lichterloh. Schwarz ist der Himmel von den Rauchwolken, die Sonne dringt nicht mehr durch. Wie- der heulen die Sirenen. Ganze Kompanien stürzen am Gefängnis vorbei, als liefen sie um ihr Leben. Das 703887 9 Dynamitschiff brennt. Wir werden in den Keller geführt. Dann: ein Schlag, ein greller Blitz, Splitterregen, Mörtel, Staub. Über hundert Tote sind zu beklagen, in der Mehrzahl Soldaten, die sich in der Nähe des Hafens aufhielten. EIN DUMMER ZUFALL „Heute nacht geht es los. Haltet euch bereit, wir holen euch ab“, unterrichtet uns Artur. Sie holten uns aber nicht ab. Ein dummer Zufall machte einen Strich durch die Rechnung. Die Gruppe hatte einen Lastkraftwagen zur Verfügung, alles war ver- laden, die Partisanen waren informiert. Die Offiziere und Unteroffiziere kümmerten sich um nichts, sie ver- anstalteten Saufgelage. Da meldet einer der Kameraden dem Aufsichtführen- den: „Alles fertig, auf zu den Partisanen!“ Erst jetzt bemerkt er, daß einer von den Stammannschaften in der Nähe herumlungert. Eine blitzschnelle Überlegung. Nein, es geht nicht mehr. Der von der Stammannschaft wird, sobald man ihn aus den Augen läßt, Krach schlagen. Der Weg in die Berge führt an einer SS-Kaserne vorbei. Ein Anruf und... Also reißen die Kameraden alles wieder vom Lastkraftwagen herunter, überwältigen den nächsten Posten und gehen ohne Lastkraftwagen zu den Partisanen. Vergeblich warten wir mit unseren gepackten Tor- nistern die ganze Nacht. Den Morgenkaffee bringen uns Stammannschaften. Sie machen dunkle Andeutungen. In den letzten Tagen haben wir Erlaubnis bekommen, zu zweit das Gefängnis zu verlassen. Das ist kein Risiko, 98 denn kommen die beiden ‚nicht zurück, geht es den übri- gen sechs schlecht. Alfred und.ich bitten, zum Bataillon gehen zu dürfen, zur Sanitätsstunde. Dort ist etwas los. Vor den Türen stehen Unteroffi- ziere und Feldwebel Posten. Die Stammannschaften ver- richten unter Aufsicht Dienst. „Alle Politischen sind ge- türmt“, ruft uns einer zu. Nun traut man anscheinend niemand mehr. Sogar der ewig betrunkene Hauptmann wurde vor Schreck nüchtern, als er erfuhr, daß sein Fah- rer, der Bursche und der Bataillonsschreiber zu den Parti- sanen gegangen sind. ZUM ERSTEN MAL NACH ELF JAHREN Am gleichen Tag soll unser Abzug beginnen. Der Vormittag ist erfüllt von den Explosionen der Spreng- kommandos.. Volos ist nicht nur ein wichtiger Umschlag- hafen, sondern auch ein bedeutender Eisenbahnknoten- punkt. Kreuz und quer durchziehen Gleise die Städt. Diese Gleisanlagen sind für die flüchtende Wehrmacht ohne jede militärische Bedeutung, trotzdem werden alle Schienen aufgerissen. Die ELAS machte die Soldaten in Flugblättern auf den Wahnsinn dieser Zerstörung auf- merksam. Die Ländser wissen nicht, daß Griechenland jedes Gramm Erz vom Ausland einführen muß. Und wenn sie es wüßten? Nach uns die Sintflut! Am späten Nach- mittag zieht die Wehrmacht aus Volos ab. Panzerfahrer ohne Panzer, Matrosen ohne Schiffe, Kradmelder ohne Kräder, motorisierte Einheiten ohne Fahrzeuge. Nur dann und wann sieht man einen alten Trecker, der ein schweres Geschütz zieht. Dafür trifft man auf Schritt ” 99 zusteigen. Aber sagen Sie ihnen noch einmal, daß keine Gefahr besteht.“ Wieder werden unsere Worte übersetzt. Schnelles, erregtes Flüstern. Die Griechen sind un- schlüssig, ob sie uns trauen können. Zum Teufel, sie müssen sich beeilen, sonst wird der Leutnant mißtrauisch. Alfred findet die Zauberformel: „Aide, Synagonistes“ („Vorwärts, Mitstreiter, Genossen“). Endlich scheinen die Griechen zu begreifen, obwohl es ihnen sicherlich schwerfällt, sich vorzustellen, daß in dieser verhaßten Uniform Genossen stecken. Einer nach dem andern steigt aus, die Hand noch immer in der Tasche, in. der sich deutlich ein schwerer Gegenstand abzeichnet. Aller- dings stellen sie sich so auf, daß sie mit einem Sprung wieder im Wagen sein können. Wir klappen den Sitz hoch. Unter den Polstern ein paar Maisblätter, wir schie- ben sie beiseite. Da, eine Kiste mit fremder Aufschrift, daneben ein Packen Flugblätter. „Kato o Fassismos!“ („Nieder mit dem Faschismus!“) können wir entziffern. Also wir haben uns nicht geitrt. Wir lachen die Griechen an und klappen den Sitz sorgsam wieder zu. „Poly en daxi“ („Sehr in Ordnung“) sagen wir anerkennend. Nur daß uns die Griechin unauffällig ein Bündel Drachmen hinhält, finden wir unschön. „Wir sind Deutsche, Fräulein, keine Nazis. Und Anti- faschisten bezahlt man nicht für ihre Tätigkeit. Sie kön- nen passieren, grüßen Sie Ihre Freunde von uns, wir kommen auch bald.“ Nun nehmt doch endlich die Hand aus der Tasche! Die Griechen sind so verwirrt, daß sie vergessen, sich zu bedanken. Das hat Nina, die mutige Andartin*, ein paar Monate später in Verria nachgeholt, * Weibliche ELAS-Angehörige. 70 Nach der Ablösung werden wir zum Leutnant befoh- len: „Das haben Sie zackig hingekriegt, die Kontrolle“, meint er anerkennend. „Die hatten ja ein eigenes Auto, das waren wohl ganz große Tiere?“ „Jawohl, Herr Leutnant, hatten erstklassige Papiere (ich denke an den Krankenschein). Die waren von der Regierung“ (von einer kommenden, setze ich in Gedan- ken hinzu). „Ich wollte eigentlich schon rüberkommen und mir die Bundesbrüder mal aus der Nähe ansehen“, meint der Leutnant. „Aber ich wollte euch die Tour nicht ver- masseln, habt doch sicher wieder allerhand Zigaretten geschlaucht, was?“ „Aber Herr Leutnant“, protestieren wir, „den Posten ist es verboten...“ „Schon gut“, sagt er, „haut ab.“ HAMMEL Unser Pimpf hat sich etwas Neues ausgedacht. Wenn ihm die Verpflegung zu eintönig wird und er Appetit auf Hammelbraten hat, werden Griechen verhaftet. Ein Kommando, wir nennen es den Proviantspähtrupp, wird zusammengestellt. Diese Wegelagerer in Uniform klappern mindestens jede Woche einmal, oft aber jeden zweiten Tag, Farsala und die Umgebung ab. Sie gehen in ein Haus und verhaften den Mann, den Vater oder den Sohn. „Er ist Partisan und kommt vors Kriegs- gericht. Sie können morgen zur Kommandantur kommen und ihm noch einmal etwas zu essen bringen“, unter- richten sie die entsetzten Angehörigen. Der Verhaftete zı und Tritt die seltsamsten Fahrzeuge. Eselskarren, Kin- derwagen.... Unser Gefangenentransport steht zum Ab- marsch bereit. Wir und die zum Tode Verurteilten wer- den zu je zwei Mann mit Handschellen zusammen- geschlossen. Alfred zwinkert mir zu und klopft auf seine Tasche. Er hat an alles gedacht und einen Schlüssel für die Handschellen besorgt. Wir haben einen Karren aufgetrieben, den wir mit unseren Tornistern beladen, die ziemlich schwer sind von den Liebesgaben unserer Besucher - Konserven, Gebäck, ein paar tausend Zigaretten und sogar eine komplette Uniform. „Ohne Tritt, marsch!“ Ziel, das sechzig Kilometer entfernte Larissa. Wir marschieren am Schluß der Kolonne. Am Stadt- tand wird zum ersten Male gehalten. Von den Bergen aus wird die Spitze der Kolonne unter Feuer genommen. Wir blicken noch einmal zurück auf das herrliche, im Schein der untergehenden Sonne liegende freie Volos. Das Nachkommando stürmt heran und vergleicht die Uhren. Es wird gesprengt. Instinktiv werfen wir uns hin. Gewaltig ist der Luftdruck, der heranfegt. Die Hafenanlagen, das Werk jahrelanger Arbeit, sind in die Luft geflogen. Später erfahren wir, daß bei dem Ver- such, die Sprengladungen zu entfernen, zwölf Partisanen den Tod gefunden haben. Wie schlecht es sich marschiert, wenn man mit dem Ziel nicht einverstanden ist! So langsam das Tempo ist, uns erscheint es viel zu schnell. Schon nach den ersten paar Kilometern wird der Unteroffizier, der uns bewacht, müde. Jedesmal, wenn wir ihm ein paar Schritte voraus sind, kräht er: „Wo seid ihr denn?“ 100 “ Die Dunkelheit ist hereingebrochen. Sehnsüchtig starren wir zu den Bergen hinüber. Glücklicherweise wird alle Augenblicke haltgemacht, so daß wir nicht weit vorankommen. Aber was nützt das, wir werden den Unteroffizier nicht los. Er redet wie ein Wasserfall und läßt durchblicken, daß er von den Nazis nichts hält. Wenn er uns doch endlich allein ließe! Langsam und doch viel zu schnell vergeht die Nacht. Der Morgen graut. Ein paar Mann vom Gefangenentransport fehlen. Fast die Hälfte des Weges haben wir schon zurückgelegt. Gegen elf Uhr wird Rast gemacht. Erst bei Einbruch der Dunkelheit soll es weitergehen. Plötzlich wird Alarm gegeben. „Sofort aufbrechen!“ Es ist unser Glück, daß die Kolonne so schlecht zu Fuß ist. Trotz aller Flüche des Kommandeurs, der die Straße abfährt und den Säu- migen zuschreit: „Wer zurückbleibt, fällt den Partisanen in die Händel“, legen wir nicht mehr als vier Kilometer in der Stunde zurück. Der einzige Lastkraftwagen macht den Lumpensamm- ler, genannt „Heldenklau“, Vorn werden Einsatzfähige gebraucht. Die Partisanen bedrängen Larissa. Es sind noch zwanzig Kilometer bis dorthin. Unser Unteroffizier hat es eilig, die Angst vor den Partisanen sitzt ihm im Nacken. „Kommt gleich nach“, sagt er und geht voran. Endlich wird es wieder dunkel. Wir sind hinter der Kolonne zurückgeblieben. Mühsam holt Alfred den Schlüssel aus der Tasche. Das Schloß knackt, die Hand- schellen klirren auf die Straße. Rechts erstreckt sich ein rabenschwarzer Acker. Der Karren bekommt einen Tritt. Es ist unsere letzte „Berührung“ mit der Wehrmacht. Ungefähr hundert Meter laufen wir über den Acker. Schweratmend bleiben wir stehen. Wir sind frei. Das 101 erste Mal nach elf Jahren. Wie aus einer anderen Welt hören wir noch abgerissene Befehlsworte und die schlur- fenden Schritte müder Landser. „DU EXTRA PRIMA!“ Das ist eine Eigentümlichkeit der griechischen Land- schaft. Flach erstreckt sich das Land, und plötzlich ragen die Berge wie eine Mauer auf. Die Berge. Zum Greifen nahe erscheinen sie uns, schwarz vor dem dunklen Nacht- himmel stehend. Wir sehen zwei Feuer, das eine auf der Chaussee, wo der letzte Panzer in Flammen aufgeht, das andere in den Bergen - Fliegerzeichen der Partisanen. Wir glauben, in wenigen Minuten am Fuß der Berge zu sein. Doch wir stolpern Stunden um Stunden über die Äcker. Das Feuer bleibt immer gleich weit entfernt. Da geben wir es auf und legen uns in eine Ackerfurche. Wir schlafen sofort ein. Das Blöken von Schafen weckt uns. Es ist bereits hell. Ganz in der Nähe entdecken wir einen Schäfer und sei- nen etwa zehnjährigen Begleiter. Wir wissen noch nicht, daß fast jeder griechische Schäfer für die Widerstands- bewegung arbeitet. Und deshalb sagen wir auch das Stichwort nicht - und machen es uns und ihm schwierig. Auch der Schäfer hat uns entdeckt. Wir stehen auf und gehen auf ihn zu. Erstaunt und besorgt blickt er uns entgegen. In der Nähe der Berge tauchten deutsche Soldaten fast niemals auf. „Du Partisan?“ fragen wir nach einem freundlichen Gruß. „Nix Partisan“, antwortet der Schäfer und hebt be- teuernd die Hände. 102 „Antifassistes“, sagen wir, während wir auf uns deu- ten, und wiederholen unsere Frage, Aber der Schäfer bleibt mißtrauisch. „Nix Partisan“, ist wieder seine Antwort. „Pu Chorio?“ („Wo ist ein Dorf?“) versuchen wir cs nun und machen die Gebärde des Trinkens. Der Schäfer weist zu den Bergen. Ich öffne meine Patronentasche und gebe ihm eine von den Zigarettenschachteln, die darin stecken. Ein flüchtiges Lächeln huscht über das Gesicht des Schäfers, und er bedeutet uns, daß er uns ins Dorf begleiten will. Haben etwa die Zigaretten seine Meinung über uns geändert? Er läßt uns ein paar Schritte voraus- gehen. Bald holt er uns wieder ein und sagt in dem gebräuchlichen Griechisch-Italienisch: „Aide, parti Par- tisan.“ Obwohl den Schäfer der ungewöhnliche Inhalt meiner Patronentasche beruhigt hatte, hatte er uns erst ein paar Schritte vorausgehen lassen. Daß an unseren Koppeln keine Pistolentaschen waren, ließ ihm unsere Behauptung „Antifassistes“ wahrscheinlicher vorkommen. Als wir in Rufnähe des Dorfes sind, legt der Schäfer die Hände vor den Mund: „Min pirowollas, ferno ger- manus lipotaktes!“ („Nicht schießen, ich bringe euch deut- sche Überläufer.“) Das Dorf ist erreicht. Wir gehen auf das erste Gehöft zu, vor. dessen Tür ein junger Grieche und eine junge Griechin stehen. Sie machen erschrockene Gesichter, als sie uns erblicken.. Der Schäfer ruft etwas zu ihnen hin- über. Dann eilt die Frau in das Gehöft und kommt mit einer großen Schale Schafmilch wieder. Durstig trinken wir, während die Frau und der Mann immer wieder be- teuern: „Du extra prima Kamerad.“ 103 Wir haben es gar nicht bemerkt, daß der Schäfer den Jungen weggeschickt hat. Noch als wir vor dem Gehöft stehen und nach griechischen Worten suchen, um ein Ge- spräch zustande zu bringen, nähern sich drei Partisanen, ein griechischer Bauer mit einem großen Schnauzbart, uatersetzt, mit stolzen, funkelnden Augen, und zwei Jun- gen in Uniformen mit vielen Flicken. Einer von ihnen ist barfuß. Patronengurte kreuzen sich über ihrer Brust, am Koppel hängen Handgranaten. Ruhig mustern sie uns. Die kurzen italienischen Gewehre halten sie in der Hand. Durch Zeichen fordern sie uns auf, die Arme hochzuheben, und der Bauer gibt den beiden Jungen Be- fehl, uns zu durchsuchen. Da rufe ich laut: „Syto i An- dartes.“ Verdutzt blicken sich die beiden Jungen an. 104 ‚Auch der Bauer stutzt, aber nur eine Sekunde lang. Plötzlich hält der Schäfer drei Gewehre in seinen Hän- den, weil uns sechs Arme umschlingen. IN DEN FREIEN BERGEN Arm in Arm geben wir in das Dorf. Eine ärmliche Hütte, es ist die beste, wird uns als Quartier angewiesen. Im Dorf liegt eine Partisanenkompanie, sie ist achtzig Mann stark und wird von einem jungen Leutnant ge- führt. Die Bewohner des Dorfes und die anwesenden Parti- sanen umringen uns. Fast alle Kompanieangehörigen sind unterwegs, um das zu bergen, was die Wehrmacht auf ihrem Rückzug weggeworfen hat. Niko, ein griechi- scher Student, der aus der deutschen Zwangsarbeit ge- flohen ist, macht den Dolmetscher. Hundert Fragen auf einmal werden an uns gestellt. Da unterbricht eine grie- chische Frau plötzlich das Gespräch. Alle anderen schwei- gen. Niko übersetzt: „Sie findet es nicht richtig, daß wir euch mit so viel Fragen bestürmen, statt erst einmal zu fragen, ob ihr Hunger habt.“ Wir öffnen unsere 'Tornister, um ihnen zu zeigen, wie gut wir versorgt sind. Unser Blick fällt auf die Parti- sanen. Wir sehen ihre zerfetzten und geflickten Unifor- men, ihre mit Lumpen umhüllten Füße. Wir nehmen Hosen, Strümpfe, Zigaretten und Konservenbüchsen aus den Tornistern und bitten Niko, den Partisanen zu sagen, daß wir all das nicht mehr brauchen und es den Bedürf- tigsten geben wollen. Aber die Partisanen lehnen ab, „Bitte, behaltet es, Kameraden, vielleicht könnt ihr es 105 selbst noch gebrauchen. Der Weg nach Deutschland ist weit. Griechenland ist bald frei, und wir haben jahre- lang entbehrt, niemand hat uns geholfen, nur das arme Volk hat uns von seinem wenigen gegeben. Das einzige, was wir von euch nehmen würden, sind Waffen, und die habt ihr leider nicht.“ Der Kreis wird von dem jungen Leutnant durch- brochen. Er läßt sich Meldung erstatten und betrachtet uns. Wir sehen in ein junges, energisches Gesicht, das von vielen Entbehrungen und harten Kämpfen erzählt. Der Leutnant steht vor uns, ohne uns die Hand zu geben. Wir sind betroffen. Der Leutnant wendet sich an den Dolmetscher, und der Dolmetscher übersetzt: „Bitte sagen Sie, wer Sie sind, weshalb und wie Sie zur ELAS kamen.“ Alle setzen sich, und wir beginnen zu erzählen. Niko übersetzt Satz für Satz. Wir beginnen nicht mit Grie- chenland, wir erzählen von Deutschland, von der Schafott- front. Je länger wir berichten, desto größer wird die Aufmerksamkeit. Als wir unsere Organisation bei den 999ern erwähnen und den Überfall in Farsala, ertönen laute Zwischenrufe. Niko übersetzt sie uns. Die Parti- sanen in diesem einsamen Bergdorf, viele Kilometer von Farsala entfernt, wissen von unserer Organisation, ja, ihnen sind sogar Einzelschicksale einiger 999er bekannt. Als wir geendet haben, tritt ein kurzes Schweigen ein. Dann kommt der Leutnant auf uns zu, umarmt uns und sagt: „Kameraden, Hitler und seine Soldaten haben viel Leid über Griechenland gebracht. Unser Volk haßt seine Unterdrücker. Ihr aber habt uns gezeigt, daß es noch andere Deutsche gibt, Deutsche, die die Freiheit und die Gerechtigkeit lieben.“ 106 Abends sitzen wir zusammen um das Feuer. Der Himmel rötet sich, Larissa brennt, die Wehrmacht be- reitet ihren Rückzug vor. Die Andarten blicken hinüber, viele von ihnen wohnen in Larissa und haben dort noch Frau und Kind. LEUCHTRAKETEN Auf schweißnassem Pferd jagt ein Melder in das Dorf. Ganz in der Nähe hat eine größere Wehrmachteinheit, die den Fluß nicht überqueren kann, haltgemacht, da die Brücke gesprengt ist. Ständig ist die Einheit den An- griffen der englischen Bombenflugzeuge ausgesetzt. Die ELAS will sich einer anderen Waffe bedienen, und diese ist für die Wehrmachtführung gefährlicher als Menschen- verluste: Aufklärung - Wahrheit. Die Division läßt durch den Melder anfragen, ob wir dazu bereit sind. Wir stimmen sofort zu. Ein Stapel Flugblätter wird uns ausgehändigt, wir bekommen ein Megaphon, Mulis werden gebracht, und wir können uns auf den Weg machen. Da drängt sich eine alte Frau zu uns heran. (Die Aktionen der ELAS waren selten militä- risches Geheimnis. Ja, die Stärke der ELAS bestand gerade darin, daß jeder Bauer, jeder Hirte wußte: Dort ist die Einheit, dort kämpft sie, und das ist ihr Ziel.) Sie wendet sich an mich: „Du, sag deine deutsch Kamerad: Kamerad komm Partisan. Partisan extra prima. Du kommst Partisan, Polemos (Krieg) fini. Du luggi-luggi (wiederschen) Mama, Papa. Andere Kameraden, was gehen mit Hitler, alles kaputt.“ Drei Stunden reiten wir durch die Nacht. Wir lassen die Mulis zurück. Das letzte Stück Weg kriechen wir. 107 Unter uns liegt ein mondbeschienenes Tal, in dem sich ungefähr tausend deutsche Soldaten befinden. Hinter einem Felsen gehen wir in Deckung. Eine große Erre- gung kommt über mich. Endlich nach so vielen Jahren darf ich wieder einmal die Wahrheit sagen, darf sie laut sagen. Alle Vorsicht vergessend, springe ich auf den Felsen. Durch das Megaphon verstärkt, klingt meine Stimme in das Tal hinunter: „Achtung, Kameraden! Hier sprechen deutsche Soldaten bei der ELAS. Ihr wißt, daß ihr in den Tod geht, wenn ihre den Rückzug weiter mit- macht. Schluß mit dem Wahnsinn, kommt zu uns, denkt an eure Frauen...“ Plötzlich stehen Leuchtraketen über mir. „Feuer frei!“ höre ich und springe schnell in Deckung. Da knallt es auch schon aus Gewehren und Maschinen- gewehren. Als eine Feuerpause eintritt, springt Alfred vor. Nach vier oder fünf Sätzen wiederholt sich dasselbe Spiel. Auch weiter unten im Tal wird geschossen. Also ist auch dort ein Propagandatrupp bei der Arbeit. Im Licht einer Leuchtkugel schen wir, wie sich ein Stoßtrupp die Anhöhe emporarbeitet. Sie wollen uns ausheben. Auch wir schießen. Mitten hinein in den Stoßtrupp platzen Leuchtkugeln und Raketen mit Flug- blättern. Der Stoßtrupp geht in Deckung und eröffnet ein wildes Feuer. Nun ist es Zeit für uns, zu verschwin- den. Erst als wir bei den Mulis sind, merke ich, daß es aus meinem Ärmel tropft. Etwas habe ich abbekommen. DAS „BIEST“ Der größte Teil der Partisanenkompanie ist fast ständig im Einsatz. Der Kampf um Larissa hat begon- 108 nen. Die Wehrmacht leistet auf ihrem Rückzug ganze Arbeit. Von Athen bis Saloniki wird jede Brücke ge- sprengt, jeder Tunnel unbefahrbar gemacht. Man ver- sieht die Lokomotiven mit Sprengladungen und jagt sie von beiden Seiten in den Tunnel hinein. Unweit von Larissa liegt eine Kavalleriekaserne, die in ein großes Lebensmitteldepor verwandelt wurde. Die hier lagernden Lebensmittel waren gleich nach der Be- setzung Griechenlands von internationaler Seite für das hungernde griechische Volk gestiftet worden. Nur einen Teil davon hatte die Wehrmacht verteilen lassen. Jetzt droht die Gefahr, daß auch dieses Depot gesprengt wird und damit die Einwohner von Larissa einer Hunger- katastrophe ausgeliefert werden, denn die Eisenbahnen sind zerstört, das Land ist ausgeplündert, Die Spren- gung muß verhindert werden. Unsere Kompanie stellt ein Kommando von vierzig Mann zusammen. Nach langem Drängen erreichen wir es, in das Kommando aufgenommen zu werden. Das Lager liegt drei Kilometer außerhalb der Stadt. Nur ein Sprengkommando haben die Faschisten zurück- gelassen. Vorsichtig schleichen sich die Partisanen heran. Nach zehn Minuten geben sie uns ein Zeichen, das Kommando ist überwältigt. Im Depot erwartet uns ein überraschender Anblick. Gegen die Mauer gelehnt steht unser Feldwebel, das „Biest“, mit erhobenen Armen, neben ihm noch zehn Soldaten. Heftiges Erschrecken malt sich auf dem Gesicht des Feldwebels, als er uns er- blickt. Er wendet sich an mich. „Sie können mir einen letzten Gefallen tun. Obwohl es mir schwerfällt, gerade Sie darum zu bitten. Sagen Sie, man soll uns gleich er- 109 schießen, die Schande, von Banditen überwältigt zu sein, überleben wir nicht.“ „Sprechen Sie nur für sich oder auch für Ihre Kame- raden?“ frage ich. „Die anderen haben doch selbst einen Mund.“ „Wer erschossen werden will, mag drei Schritte nach links gehen. Wer nicht erschossen werden will, kann sich entweder in Gefangenschaft begeben oder ohne Waffen nach Larissa zurückkehren.“ . Die Soldaten zögern und blicken zu dem Feldwebel hin, dem „Gehirn“, das für sie denken muß. „Kameraden, ihr seid Zeugen, daß wir überrumpelt wurden. Ich denke, es ist keine Schande, wenn wir uns zurückziehen“, sagt der Feldwebel, Ich fange ein Augenzwinkern auf, das er den Soldaten zuwirft. Ich weiß, was dieses Augenzwinkern bedeutet: mit Verstärkung zurückkehren. Ich flüstere mit Niko. „Laufen lassen“, sagt der Leut- 110 mant, ‘nachdem ihn Niko informiert hat. „Sollen sie kommen.“ Vor dem Tor hat der Feldwebel seine Haltung wieder- gefunden: „Ohne Tritt, marsch“, befiehlt er. IN LARISSA JUBELN DIE GLOCKEN Wir sind in Velestino, acht Kilometer vor Larissa, einem Bergdorf. Die ganze Bevölkerung hat sich auf dem Marktplatz versammelt. Es werden Nachrichten durchgegeben. Die Menschen betrachten uns zuerst er- staunt. „Ine Germani“ („Sind das Deutsche?“) fragen sie. „Ne, ne“ (Ne heißt auf griechisch ja). Als sie hören, daß wir Antifaschisten sind, schlägt ihre anfangs reser- vierte Haltung ins Gegenteil um. Man klopft uns auf die Schulter und umarmt uns. Wir stehen mitten unter den Bauern. Wir diskutieren mit ihnen über die Nachrichten. Immer wieder fragen uns die Griechen: „Habt ihr schon gehört, daß Einst Thälmann ermordet wurde?“ Ernst Thälmann, der große Sohn des arbeitenden Deutschlands, ist hier in diesem abgelegenen griechischen Bergdorf ein Begriff. Uns zu Ehren wird cine kleine Feier veranstaltet. Immer wieder müssen wir von unseren Erlebnissen be- richten. Besonders interessiert lauschen die Kinder und Jugendlichen. Sie stellen Fragen, wie die deutsche Jugend lebt, ob sie sich am Kampf gegen den Faschis- mus beteiligt. Wir werden gebeten, ein deutsches Ar- beiterlied zu singen. Wir stimmen an: „Dem Morgenrot entgegen.“ Plötzlich heißt es „Olli masi“ („Alle zusammen“), und wir singen mit den Jugendlichen, mit den Kindern, mit 111 den Bauern und Bäuerinnen, den Studenten und den Lehrern in zwei Sprachen: „Bald siegt ihr allerwegen.“ „Pu ine i Thälmanni?“ („Wo sind die Thälmänner?“) Eine Gruppe festlich gekleideter Menschen sucht uns. Noch ein Fest wird im befreiten Velestino gefeiert, eine Bauernhochzeit. Dazu sind wir eingeladen. Schweigend und würdig sitzt der Papas (Geistlicher) am Ende des Tisches. Es geht nicht so laut und fröhlich zu, wie auf einer deutschen Bauernhochzeit. Vielleicht ist diese Verhaltenheit in Griechenland üblich, vielleicht aber wirft die bevorstehende Rückkehr des Bräutigams in die Berge schon ihre Schatten voraus. Wieder werden wir aufgefordert, ein deutsches Lied zu singen. „Tra- guda, Parakalol“ („Singen, bittel‘) Für eine Bauern- hochzeit erscheint uns „Wir sind des Geyers schwarze Haufen“ durchaus angebracht, und laut und deutlich singen wir: „Wir wollen’s dem Herrn im Himmel klagen, daß wir die Pfaffen wollen totschlagen.“ Bei diesen Worten bemerke ich ein leiscs Lächeln auf dem Gesicht des Papas. Als wir geendet haben, klatschen alle begeistert Beifall. Auch der Papas klatscht, Dann sagt er, immer noch leise lächelnd, in tadellosem Deutsch: „Liebe Freunde, euer Lied könnte man in Gegenwart eines Geistlichen für taktlos halten. Aber wenn man etwas von den deutschen Bauernkriegen weiß, dann kann man dieses Lied schon verstehen. In Griechenland aber“, so fügt er stolz hinzu, „kämpft der größte Teil der nie- deren Geistlichkeit mit dem Volk.“ Die Kirche, die nie- dere Geistlichkeit, spielt in Griechenland eine andere Rolle als in Deutschland. Der griechische Geistliche, der „Papas“, wie er genannt wird, hat keine von den Behör- den anerkannte und unterstützte Stellung. Die armen 112 Bergdörfer, die Bauern und Hirten, bauen sich ihre Kir- chen selbst auf. Der Papas lebt unter ihnen häufig selbst als Bauer, lebt von den Gaben, die sie ihm freiwillig spenden. Aus dem Freiheitskampf des griechischen Vol- kes gegen die Hitlerwehrmacht und später gegen ihre Nachfolger, die englischen und schließlich amerikanischen Unterdrücker und ihre griechischen Lakaien, ist der Pa- pas nicht wegzudenken. Nicht selten ist zu beobachten, daß der Priester nach beendetem Gefecht Patronengurt und Waffe ablegt, um die Dankesmesse zu zelebrieren. Freilich gibt es auch unter den Geistlichen Verräter, die ihr Volk verlassen und jene Waffen segnen, die gegen ihr. Volk gerichtet sind. Die aber haben aufgehört, Grie- chen zu sein. Am nächsten Morgen weckt uns Glockenläuten. In Larissa jubeln die Glocken. Larissa ist befreit. In den Bergen krachen Salven, überall sammeln sich die Men- schen, und schon kurze Zeit später bewegt sich ein langer Zug der Stadt zu. Es sind all diejenigen, die vor der Wehrmacht fliehen mußten. Die Menschen weinen vor Freude. Wir müssen einen großen Umweg machen, denn alle Brücken sind gesprengt. In jedem Dorf weht die griechische Fahne; das blaue Kreuz im weißen. Feld, Wir sitzen neben dem Leutnant. „Unser Kampf ist lange nicht zu Ende. Noch sind die Engländer da.“ Seit 1941 ist er aus Larissa fort. Er starrt auf die jubelnde Menge in den Dörfern, auf die armseligen Karren, mit denen die geflüchteten Bewohner in ihre Heimat zurückkehren, auf die Ruinen rechts und links des Weges, und über sein Gesicht rinnen Tränen. Jubelndes Larissa. Jedes Fuhrwerk der Partisanen wird fröhlich begrüßt. Immer wieder fallen die Frauen 83807 113 ihren endlich heimgekehrten Männern um den Hals, immer wieder küssen Kinder ihre Väter ab. Noch am späten Abend rollen die Wagen durch die Straßen. „Das ist die junge Garde...“ Deutscher Gesang! Eine Marschkolonne nähert sich. Dreißig deutsche Partisanen. Erich Klose führt sie an. SCHLÄCHTER, VORTRETEN! In Larissa sind Lager für die gefangenen Wehrmacht- angehörigen. Das Lazarett ist mit deutschen Verwun- deten belegt. Zusammen mit Dr. Karl, einem öster- reichischen Philologen, der fließend Griechisch spricht, suchen wir das Lazarett und die Lager auf. Wir disku- tieren mit den Soldaten. Viele von ihnen glauben noch an den Endsieg, und es sind nicht wenige, die sich scheu umsehen, wenn wir die Faschisten als Verbrecher be- zeichnen. Ganz überraschend trifft.ein Transport mit Verwunde- ten und Kranken ein. Wir helfen beim Ausladen, Plötz- lich ruft mich einer der Kranken. Eine Decke fliegt bei- seite. „Erwin, du?“ Erwin hatte zu dem Transport von dreißig Soldaten gehört, von denen achtundzwanzig so grausam verstümmelt worden waren. Wir bestürmen Erwin sofort mit Fragen, aber er kann uns jetzt nicht Rede und Antwort stehen, da ihn gerade wieder ein Malariaanfall packt. „Ich hab doch keine Ruhe“, sagt er, während seine Zähne aufeinanderschlagen. „Bald bin ich bei euch, vielleicht bringe ich euch noch zwei Gäste mit.“ An diesem Abend haben wir die Erlaubnis bekommen, eine Versammlung für die Gefangenen in unserer Unter- 114 “ kunft abzuhalten, da sie geräumiger ist. Thema der Ver- sammlung: „Wofür kämpfen die Antifaschisten?“ Es sind fast alle Gefangenen gekommen. „Anfangen!“ rufen sie. Draußen fährt ein Auto vor. Gestützt von einem Arzt betritt Erwin den Raum. Ihm folgen Heinz, ein Kamerad aus der dritten Kompanie, und ein uns unbekannter Soldat mit niedergeschlagenen Augen. Erwin wendet sich an mich: „Ich hab es nicht ausgehalten. Ich muß es euch erzählen. Den Doktor hab ich weich gemacht.“ „Höchstens eine Stunde“, fällt ihm der Arzt ins Wort, „dann geht's wieder ins Bett.“ Die Gefangenen sind auf einmal ganz still geworden, als erwarten sie eine wichtige Mitteilung. Erwins leise Stimme ist deutlich zu hören: „Kameraden! Vor einem Monat wurden in Volos achtundzwanzig vichisch verstümmelte Soldaten zur Schau gestellt. Man hat euch erzählt, Partisanen hätten dies getan. Ich will euch die Wahrheit erzählen.“ Erwin schweigt einige Augenblicke. „Auf der Chaussee zwi- schen Larissa und Volos hatten die Partisanen eine Mine gelegt. Das Auto eines Majors war auf diese Mine ge- fahren und in die Luft geflogen. Als Vergeltungsmaß- nahme dafür wurde von der Wehrmacht ein griechisches Darf überfallen und bis auf die Grundmauern nieder- gebrannt. Achtzig Menschen fanden dabei den Tod. Daraufhin beschloß eine Partisaneneinheit, die nächste deutsche Wehrmachtkolonne, die das Dorf passieren würde, anzugreifen. Am 16. Oktober bekamen wir den Befehl, einen wichtigen Transport zu begleiten. Ein Stabsoffizier leitete den Transport. Heinz und ich waren die einzigen Angehörigen des Strafbataillons 999, die Ds 115 zum Transport gehörten, alle übrigen waren wehrwürdige Soldaten. Einige von ihnen hatten an dem Überfall auf das Dorf teilgenommen.“ Gespannt folgten die Gefangenen seinen Worten. „‚Uns kann nichts passieren, Leute‘, sagte der Oflizier vor der Abfahrt. ‚Wir haben Griechen-Sicherung. Ein Last- wagen mit griechischen Männern, Frauen und Kindern fährt voraus, und wenn der auf eine Mine läuft, haben es die Partisanen sich selbst zuzuschreiben, wenn ihre Kinder hochgehen. Ihr habt fürs erste hundertzwanzig Schuß Munition, spart damit nicht, wenn sich irgendein Bandit sehen läßt.‘ Wir fuhren los. In zwanzig Meter Abstand folgten wir dem Lastkraftwagen mit den grie- chischen Geiseln. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir das Dorf. Lachend zeigte ein Gefreiter hinüber. ‚Det Haus da hab ick angesteckt ....‘, begann er, aber es krachten schon die Schüsse, sie trafen, und die Wagen bieben stehen. Wir standen wie auf dem Präsentier- teller, kein Baum, kein‘ Graben, keine Deckung. Wir konnten die Partisanen nicht ausmachen. Es fielen immer mehr Schüsse. Sie gingen über uns hinweg. Plötzlich trat Stille ein. Hinter einer Ruine erhob sich ein Partisan und rief uns zu: ‚Ergebt euch!‘ ‚Feuer frei!‘ brüllte ein Feldwebel. Heinz und ich war- fen die Gewehre weg. Die anderen schossen. Noch einmal rief der Partisan: ‚Ergebt euch!“ Er brach ge- troffen zusammen. Nun gingen die Schüsse der Parti- sanen nicht mehr über uns hinweg. Bald trat Stille ein, nur das Stöhnen der Verwundeten war noch zu hören. ‚Die letzte Patrone für uns‘, rief der Offizier, doch schon stürmten die Partisanen heran. Heinz und ich hoben die Hände, cs fiel kein Schuß mehr, nur eine Handgranate 116 “ krachte noch. Achtundzwanzig Tote lagen neben dem Wagen. Den: Offizier hatte die Handgranate zerfetzt. Die Partisanen legten die Toten an den Straßenrand, und ein Geistlicher, er saß auf dem Wagen mit den grie- chischen Geiseln, sprach ein Gebet. Heinz und ich gingen mit den Partisanen in die Berge.“ Erwins Stimme ist immer leiser geworden, deutlich ist zu merken, wie schwer es ihm fällt, von dem Geschehen zu berichten. Der Arzt führt ihn vom Podium. „Kameraden, das war der Überfall, so wie er sich er- eignet hat. Das, was ihr in Volos gesehen habt, das soll euch der hier selbst erklären“, sagt Heinz. Heinz geht auf den Soldaten zu, der mit ihnen ge- kommen ist. Er hat bisher ganz still am Tisch gesessen und nicht einmal aufgesehen. „Los, rede!“ befiehlt ihm Heinz. Der Soldat sitzt noch immer mit gesenktem Kopf da. „Ich kann nicht reden; frage, ich werde antworten“, stößt er fast bittend hervor. „Also gut“, sagt Heinz. „Wo warst du am 16. Oktober?“ „Beim Alarmkommando Larissa!“ „Was geschah an diesem Tag?“ „Wit wurden alarmiert, weil ein Lastkraftwagen über- fallen worden war.“ „Spann uns doch nicht so auf die Folter“, ruft jemand dazwischen. Stockend, mit kaum hörbarer Stimme, beginnt nun der Soldat zu erzählen: „Wir kamen mit einem Panzer und vier Geländewagen an die Stelle. Es war so, wie schon der Kamerad er- zählt hat. Die Toten lagen alle in einer Reihe. Manche hatten sogar die Hände gefaltet. Bei vielen war zu 117 sehen, daß sie sich selbst erschossen hatten. Unser Ober- leutnant ist zum Panzer gerannt, der eine Funkeinrich- tung hatte, Als er zurückkam, mußten wir antreten, und der Oberleutnant erklärte, wenn wir ein Wort verlieren würden über das, was jetzt passieren sollte, würde cr uns persönlich über den Haufen schießen. Die gelernten Schlächter sollten vortreten, aber ich habe mich nicht gemeldet.“ Zum ersten Mal hebt der Soldat den Kopf. Seine Stimme ist fast unhörbar geworden. „Die anderen mußten mit den Rücken zu den Toten die Straße sichern.“ „Aufhören!“ schreien drei, vier Gefangene. Alle sind blaß geworden, und erst jetzt merken wir, wie heiß und drückend es im Raum ist. „Nein“, sagt Erwin hart. „Ich habe noch einige Fragen.“ „Wer hat sich an der Schlächterei beteiligt, weißt du die Namen? Vor allem, wie heißt der Offizier, der den Befehl dazu gab?“ Zögernd antwortet der Soldat: „Es waren drei Mann, ich kenne nur einen von ihnen mit Vornamen. Willi hieß er, er war mächtig tätowiert. Willi, tätowiert? Ich sche meinen ehemaligen Zellengenossen vor Augen. Aber nein, das ist nicht möglich. Willi war ja Zucht- häusler, und zu diesem Verbrechen bediente man sich der Stammannschaften, würdiger Soldaten. Den Namen des Offiziers weiß ich nicht, aber den Befehl dazu hat der Kommandant von Volos gegeben, Hauptmann Adomeit.“ „Warum hast du den Kameraden nicht die Wahrheit erzählt?“ fragt Heinz wieder. 118 „Ich. wäre doch vor das Ktiegsgericht gekommen“, fast schreiend bringt es der Soldat heraus. Eine Weile herrscht Schweigen im Raum, bald macht sich die Empörung der Gefangenen Luft. Erregt rufen sie durcheinander. „Wir haben das alles geglaubt“, sagt einer, „und wir hätten uns deswegen beinahe selbst erschossen, bevor wir in Gefangenschaft kamen.“ „Aufhängen das Schwein!“ rufen sie jetzt. Die Blicke des Soldaten flackern. Ich stehe auf. „Kameraden!“ frage ich, „wer von euch hätte den Befehl nicht aus- geführt? Wer an seiner Stelle hätte den Kameraden die Wahrheit gesagt?“ Still bleiben alle sitzen. DIE ENGLÄNDER KOMMEN! Morgen soll die Befreiungsfeier stattfinden. Auf dem Volkshaus, dem Sitz der eben gebildeten Volksregie- rung, der EAM, wehen die Fahnen Griechenlands, der Sowjetunion, Englands und Amerikas. Ein englischer Panzer ist bereits mit. geschlossenen Luken zum Marktplatz gefahren. Erst als die Insassen die Fahnen sehen, steigen sie aus. Darauf fährt der Panzer zurück und kommt nach einer Stunde wieder. Ihm folgt ein Auto mit englischen Offizieren. Die Offiziere begeben sich in das Volkshaus. Nur ein paar elegant gekleidete Spießer unterhalten sich mit den am Panzer lehnenden Soldaten. Ein ganz anderes Bild bietet sich, als der sowjetische Vertreter eintrifft. Ihm fährt keine Sicherung, kein 119 Panzer voraus. Beifall braust auf, als der Wagen mit der Sowjetflagge auf dem Marktplatz hält. Die Men- schen stimmen die Internationale an. . Es spielt sich eine komische Szene ab. Der englische Offizier im Volkshaus glaubt, der Beifall gilt ihm. Lächelnd tritt er auf den Balkon heraus, doch niemand nimmt Notiz von ihm. Als die Internationale erklingt, begreift er, daß nicht er gemeint ist. Das Lächeln schwindet von seinem Gesicht, und er zieht sich schnell zurück. Wir nehmen am Vorbeimarsch der Partisanen teil. Die Straßen Larissas sind von jubelnden Menschen um- säumt. Und die Menge vor dem Volkshaus stimmt be- geistert den Reden des ELAS-Vertreters und des Ver- treters der Sowjetunion zu. Die Engländer haben die Hand an die Mütze gelegt und sehen mit verkniffenem Mund in die Ferne, als die ELAS vorüberzieht. Man sieht ihnen an, was sie denken: Waffen in den Händen des Volkes, das werden wir ändern. Nur langsam verlaufen sich die Menschen nach dieser großen Kundgebung. Plötzlich, mitten im Gedränge, stößt mich Erich an. „Du“, flüstert er mir zu, „sieh dir mal den Dicken dort in Zivil an, das ist bestimmt ein Deutscher.“ Wir drängen uns in seine Nähe. Dieses Gesicht - aber das kann doch nicht sein. Auch er mustert uns. Schließlich spricht er uns an: „Wo seid ihr denn abgeblieben? Etwa Kommune? 999er? Jetzt bei den Banditen, was?“ Da holt Erich aus. Sofort langt der Dicke in seine Tasche. Diese Be- wegung kenne ich. Mit einem Satz stehe ich hinter ihm, reiße ihm den Arm herum und ziehe eine entsicherte Pistole aus seiner Tasche. Die Menschen erstarren einen 120 Augenblick vor Schreck. Was geht hier vor sich? Ein Faschist im befreiten Larissa? Viele Hände greifen nach ihm. Es fällt den beiden Partisanen nicht leicht, ihn zur Stadtwache zu "bringen. Der Dicke tritt auf der Stadtwache so ruhig und sicher auf, daß wir beinahe glauben, uns geirrt zu haben. „Durchsuchen!“ befiehlt der ELAS-Offizier. Schnell kommt alles auf den Tisch: die Pistole, das Soldbuch eines Oberleutnants der deutschen Wehrmacht (Abwehr- stab), ein englischer Ausweis (D.P. Index Card). Aufgeregt stürmt ein englischer Major mit einem Adjutanten in das Zimmer: „Sie haben einen alliierten Soldaten verhaftet, geben Sie ihn sofort heraus!“ schreit er schon in der Tür. Er entdeckt seinen Schützling, und beide atmen erleichtert auf. Wir versuchen auf den englischen Offizier einzu wirken, machen ihm klar, daß dieser Nazi sicher schr viele Antifaschisten und vielleicht sogar auch Engländer auf dem Gewissen hat. Wir können es nicht fassen, ein Engländer, ein Soldat, dessen Land gegen Hitler kämpft, kann doch nicht einen Nazi, einen Gestapohenker be- freien! Aber der Engländer scheint uns gar nicht zu- zuhören. „Das interessiert mich nicht“, winkt er ab, „der Mann ist polnischer Bürger und wird in der eng- lischen Armee kämpfen.“ Mit breitem Lächeln verlassen beide das Volkshaus. Am nächsten Tag sehen wir in Larissa sehr viele englische Uniformen. Aber seltsam, alle, die in diesen Uniformen stecken, sprechen Deutsch. Wir versuchen herauszubekommen, was sich dahinter verbirgt. Wenn wir die Soldaten fragen, tun sie so, als verstünden sie uns nicht. 121 Am Nachmittag wissen wir Bescheid. Bei der Lei- tung des Gefangenenlagers spricht ein Engländer vor. Er bittet darum, die Gefangenen zusammenzurufen, ein Offizier wolle eine Ansprache halten. Nach kurzer Zeit fahren mehrere Autos vor. Eng- lische Soldaten bilden Spalier, und zwei Offiziere — einer davon der ehemalige Oberleutnant aus dem Ab- wehrstab - und ein Dolmetscher betreten den Raum, in dem die Gefangenen versammelt sind. „Mal herhören!“ beginnt die Ansprache. „Polen und Schlesier rechts heraustreten. Wir sind Offiziere der Anders-Armee, die mit britischer Unterstützung für die Freiheit Polens kämpft. Alle Polen und alle Deutschen, die östlich Berlins wohnen, können in unseren Reihen kämpfen. Denn unmittelbar bei Berlin verläuft die deutsch-polnische Grenze; dafür werden die Alliierten kämpfen. Ihr werdet sofort eingekleidet, erhaltet eng- lischen Sold und werdet mit Flugzeugen nach England gebracht, so könnt ihr für die Freiheit eurer Heimat gegen die Hitlerdiktatur und gegen den Bolschewismus kämpfen.“ Weiter kommt der Redner nicht. Wir stürmen das Podium. Im Handumdrehen sind die Herrschaften entwaffnet. Ein ELAS-Kommando ist zur Stelle. Die Engländer ziehen ab. ELATE, ELATE! Zwei Angehörige der Anders-Armee kommen nur in Hemd und Hose in unser Lager. Es sind zwei chemalige SS-Leüte aus Kattowitz. Sie berichten uns: „Wir wollen 122 bei denen nicht mehr mitmachen. Wir haben in Athen mit Malaria im Lazarett gelegen, der Kapitän (sie meinen den Dicken) hat überall im Lazarett gefragt, wer sich seiner Kampfgruppe anschließen will. Er sagte, der Krieg gehe mit den Engländern gegen die Russen weiter. Bei den Tommys haben wir ein feines Leben geführt. Bloß, nun sind keine Flugzeuge da, und wir können nicht nach England. Und heute ist ein Befehl gekommen, daß wir aus Larissa raus müssen. Morgen früh soll es nach Velestino gehen, dort soll sich die Kommune breitgemacht haben, hat uns der Kapitän er- zählt, und wir sollen bei denen aufräumen, aber wir beide wollen nicht mehr mitmachen.“ „Werden eure Kameraden denn mitmachen?“ frage ich. „Ja, es ist doch Befehl,“ Sofort gehen wir zum Kommandanten. Doc die Partisanen wissen bereits von dem Vorhaben der Eng- länder. Es ist schwer, eine Entscheidung zu fällen. Die Partisanen berichten, daß überall, wo der Engländer auftaucht, das Morden beginnt. Die Engländer nennen es: „Kampf dem Banditenunwesen.“ Und Banditen sind alle Griechen, die keine Faschisten sind. Leistet die ELAS morgen Widerstand, haben die Engländer Grund, auch in Larissa mit dem Terror zu beginnen. Erich steht auf. Er wendet sich an die Partisanen. „Unter denen, die morgen Velestino überfallen sollen, sind viele deutsche Faschisten. Wir haben eine Bitte: Überlaßt es uns, das Dorf zü verteidigen!“ Eine heftige Diskussion setzt ein. Zwei Fronten bilden sich, zwei Meinungen stehen sich gegenüber. Die poli- tisch erfahrenen Partisanen wissen: Es gibt nur ein Weiterkämpfen. Niemals werden die Engländer eine 123 demokratische Entwicklung in Griechenland zulassen. Die anderen haben noch Illusionen, sie wissen heute — wir schreiben Oktober 1944 - noch nicht, daß in Grie- chenland für den Engländer nicht der Faschismus der Feind ist, sondern daß sie, die Partisanen, der Feind sind. Ich sehe unruhig auf die Uhr. Es muß ein Entschluß gefaßt werden. Vier Partisanen gehen hinaus und geben uns ein Zeichen: „Elate, elate!“ „Habt ihr Waffen?“ fragen sie uns draußen. Wir ver- neinen. „Heute nacht“, sagt einer der Partisanen, „wird unsere Wache einmal nicht aufpassen. Nehmt euch dann, was ihr braucht. Alles Gute, Kameraden!“ EIN STRICH DURCH DIE RECHNUNG Fünfunddreißig Mann haben wir herausgesucht. Unsere Bewaffnung besteht aus Pistolen und Hand- granaten. Über unsere Uniformen ziehen wir Jacketts und Mäntel. Erich übernimmt das Kommando, und um drei Uhr nachts brechen wir in kleinen Trupps nach Velestino auf. Vorsichtig umgehen wir die englische Unterkunft in Larissa. Lautes Singen tönt von dort zu uns herüber. Eine Sekunde bleiben wir stehen. Tatsächlich, es sind deutsche Worte. „... bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland...“ Nach zwei Stunden Marsch erreichen wir das Dorf. Wir erkennen es kaum wieder. Die Haustüren sind ein- geschlagen, die Fensterscheiben zersprungen! Totenstille 124 herrscht. Im Gemeindehaus ist die Zerstörung am größten. Wir wollen die kurze Zeit bis zum Morgen- grauen in den Bauernhäusern verbringen, in Gruppen zu sechs Mann. Vorsichtig gehen wir durch das Dorf. An sechs Häusern klopfen wir an. Verweinte Frauen öffnen uns, und Dr. Karl über- setzt: „Vorgestern waren die Engländer hier und haben die Verwaltung und alle Partisanen verhaftet. Ein Rallis-Faschist hat die Engländer geführt. Heute vor- mittag soll Gericht sein. Der Gemeinderat ist ange- klagt, die von den Bauern gewählten Gemeinde- vertreter.“ „Angeklagt?“ fragen wir. „Warum?“ Die Frauen wissen es nicht, Langsam zieht der Morgen herauf. Wir treffen unsere Vorbereitungen. Die „Gerichtsverhandlung“ soll in der Schule am Marktplatz stattfinden. Erich, Alfred, Dr. Karl und ich begeben uns in die Schule. Unsere Kameraden sind in den umliegenden Häusern untergebracht. Sie können die Schule stets im Auge behalten. Hinter den Schulräumen liegt die Wohnung des Lehrers, der sich auch unter den Angeklagten befindet. Das große Zim- mer ist bereits ausgeräumt bis auf einen länglichen Tisch, hinter dem vier Stühle aufgestellt sind. Rechts davon steht die Anklagebank. Für die Zeugen sind wenige Bänke reserviert. Das danebenliegende Zimmer ist als Beratungsraum vorgesehen. Auf dem Tisch stehen Gläser und Aschbecher. Von dort führt ein schmaler Korridor in ein winziges Zimmer. Dort wollen wir uns aufhalten. Es erschwert unser Vorhaben sehr, daß wir kaum Zeit haben, die Dorfbewohner zu unterrichten. Der 125 Sohn des Lehrers macht den Verbindungsmann zwischen uns und unseren Kameraden in den umliegenden Häusern. Auf ein Zeichen sollen sie sich einzeln auf den Marktplatz begeben und sich auf ein zweites Zeichen auf die in englischen Uniformen steckenden SS-Leute stürzen und sie entwaflnen. Es ist Tag geworden. Schnell füllt sich der Markt- platz mit den verzweifelten Einwohnern. Und erst jetzt schen wir, daß dort bereits fünf Pfähle eingeschlagen sind. Mit einem Mal wird es ganz still. Alle blicken in eine Richtung. Wir hören das Brummen von Auto- motoren. Dann fahren die Wagen langsam auf den Marktplatz. An der Spitze ein Jeep mit einem auf- montierten Maschinengewchr, hinter ihm ein Lastkraft- wagen und etwa zwanzig Anders-Armisten. Den Schluß bildet wiederum ein Jeep, in dem drei Offiziere sitzen Einer davon ist der Dicke. Aus der Menge ertönen Verzweiflungsschreie. Schuß- bereit ist das Maschinengewehr auf die Menschen ge- richtet. Sie drängen nach vorn. Ein Befehl! Eine Salve peitscht über die Köpfe der Menge hinweg. Wider- strebend läßt sich die Menge zurückdrängen. Wir grei- fen nach unseren Waffen. Da zeigt Erich hinaus. Die Angeklagten werden in das Haus getrieben. Man hat ihnen die Hände auf dem Rücken mit Draht zusammen- gebunden. Maschinenpistolen sind auf sfe gerichtet. Bei- nahe hätte ich aufgeschrien, denn den Priester dort im Ornat, ihn kenne ich. Es ist der Papas, den ich auf der Hochzeit hier im Dorf traf. Im Zimmer nebenan hören wir Stimmen und Lachen. Das Gericht bereitet sich vor. Wenn sie nur nicht auf 126 die Idee kommen, zu uns hereinzuschen. Gespannt lauschen wir. Dr. Karl flüstert uns zu: „Sie sagen nichts, was mit dem Prozeß zu tun hat.“ Nebenan klirren Gläser, ein Teinkspruch wird ausgebracht. Darauf begibt sich das Gericht in den Verhandlungsraum. Leise gehen wir in das Beratungszimmer. Durch die dünne Wand hindurch können wir jedes Wort verstehen. Die Verhandlung be- ginnt. Der Dicke hat den Vorsitz, er führt die Verhand- lung in deutscher Sprache. Jetzt verliest er die Anklage. Dem Bürgermeister, dem Lehrer, dem Papas und einem Bauern werden „faschistische Grausamkeiten“ vorgeworfen. Das Gericht beschuldigt sie, fünfzig Rallis-Faschisten erschossen zu haben. "Die Stimme des Dicken zittert, als er ausruft: „Fünfzig Griechen sind von den Angeklagten feige er- mordet worden, nur weil sie gegen die bolschewistische Diktatur waren!“ Wir kennen diesen Ort hier nicht so genau, aber eines wissen wir: Unter seinen sechshundert Einwohnern gab es keine fünfzig Rallis-Faschisten. Nicht einmal in hun- dert Dörfern gab es sie. Am stärksten wird der Bürger- meister belastet. Er soll in „diesem bolschewistischen Tribunal“ den Vorsitz gehabt und die Brschießungen veranlaßt haben. „Der Papas“, die Stimme des Dicken überschlägt sich fast vor gespieltem Entsetzen, „hat den unschuldigen Opfern nicht nur den Segen verweigert, sondern auch noch mitgeschossen.“ „Ich lehne es ab, mich vor diesem Gericht zu ver- teidigen!“ Laut klingt die Stimme des Geistlichen. In 127 griechischer Sprache wendet er sich an die wenigen Zu- hörer im Raum. Erregte Rufe unterbrechen seine Rede: „In Velestino gab es keine Verräter.“ „Niemand brauchte erschossen zu werden.“ „Der Bürgermeister lag ja im Krankenhaus, wie konnte er da zu Gericht sitzen!“ Wir hören das Klatschen von Schlägen. Der Dicke läßt den Raum räumen. Wieder spricht der Papas: „Ich will ein Geständnis ablegen. Bis heute habe ich nicht mit der Waffe gegen die Feinde meines Volkes gekämpft. Wenn ich weiter- leben könnte, ich würde meinen Fehler gutmachen.“ „Halt die Fresse, du Pfaffensau!“ kreischt eine Stimme. Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen. Das Wort er- greift der Vertreter der Krone. Flüsternd übersetzt uns Dr. Karl: „Das starke England wird die schwachen Völker vor der Gewalt schützen. Wir werden es nicht zulassen, daß die Demokratie und der hohe Gedanke der Menschlichkeit durch brutale Gewalt vernichtet werden.“ Da gibt Erich ein Zeichen. Der Sohn des Lehrers verständigt unsere Kameraden. Schon kommen sie aus den Häusern, die Hände in den Taschen vergraben. Im Korridor gibt Erich die letzten Anweisungen. Ge- rade will ich die Tür zum Verhandlungsraum aufreißen, da hören wir Schritte. Das Gericht zieht sich zurück. Mit einem Sprung sind wir hinter der Tür. Als letzter der drei tritt der Dicke ein. „Durscht hab ich wie...“ Alfreds Faust trifft ihn ins Genick. Der Dicke fällt der Länge nach hin. Ich werfe die Tür zu. „Hände hoch!“ ruft Dr. Karl unterdrückt. Der Dicke ist bereits wieder aufgestanden. Es sieht aus, als wolle 128 er schreien. Ich halte ihm die Pistole dicht vors Gesicht. „L am an, Englishman“, flüstert er mit angstentstellter Stimme. „Durchsuchen!“ befiehlt Erich. Wir nehmen den Dreien die Pistolen ab. Der. Dicke beginnt zu bitten und zu betteln. Angewidert wenden wir uns ab. Dr. Karl bleibt bei den Gefangenen zurück, die gefesselt in das kleine Zimmer gebracht werden: Der Posten im Verhandlungsraum lehnt an der Tür, als wir sie aufreißen. Er fällt uns direkt in die Arme. Wie von selbst strecken die anderen Posten die Hände hoch. Nur einer, der vor der Anklagebank steht, scheint 9 2807 129 nicht zu begreifen. Da hebt der Papas die gefesselten Hände und schlägt zu. Schnell befreien wir die Grie- chen von den Drahtfesseln. Draußen ertönt ein furchtbares Krachen, danach tritt lähmende Stille ein, nur von wenigen Schreien unter- brochen. Fritz stürmt in den Raum. Auf dem Marktplatz ist nichts zu bemerken. Unsere Kameraden stehen ruhig da und bewachen die entwafl- neten Anders-Soldaten. Die Schreie ertönen weiter hinten. Was ist denn nur geschehen? Fritz erzählt uns: „Auf euer Zeichen gingen wir auf den Marktplatz. Zwei von uns kümmerten sich um den Jeep mit dem Maschinengewehr. Sie stellten sich neben den Wagen, und Heinz setzte eine Flasche an die Lippen und trank. Dann sah er den MG-Schützen fragend an, der lachte: „Her damit!“ Der MG-Schütze beugte sich aus dem Wagen - und lag am Boden. Das Maschinen- gewehr war eine Sekunde später auf die Anders-Soldaten gerichtet. Nun hatten es die Kameraden nicht mehr schwer. Die Anders-Soldaten hoben die Hände. In drei Gruppen standen sie da und sahen alle ziemlich blaß aus. Wir hatten sie noch nicht durchsucht. Einer von "ihnen, der hinten stand, langte in die Tasche und zog eine Handgranate heraus. Heinz saß am Maschinen- gewehr, er konnte den ganzen Platz übersehen. Er zog seine Pistole, zielte und wartete, bis der Anders-Soldat die Handgranate abgezogen hatte. Als er zum Wurf ausholte, schoß Heinz. Der Anders-Soldat schlug lang hin, die Handgranate detonierte und zerriß drei seiner Kumpane.“ Die Toten werden bereits weggeschafft, und die Grie- chen tragen drei Schwerverletzte in das Schulhaus. 130 Ein schweres Brummen kommt die Straße herauf. „Aftu ine end Tanks!“ rufen die Griechen uns zu. Wir laufen zur Ecke und blicken die Straße entlang. Dort nähert sich die englische Demokratie mit starken Argu- menten. Ein Panzer rollt heran. Was soll jetzt mit den Gefangenen werden? Es ist, als hätte der Papas unsere Gedanken erraten. „Schnell in die Schule“, sagt er. Sekunden später ist der Marktplatz leer. Wir lassen ein Maschinengewehr und fünf Mann zur Bewachung zurück. Der Panzer hat sich auf hundert Meter genähert. Die Luken werden geschlossen; man scheint etwas bemerkt zu haben. Tak, tak, rattert sein Maschinengewehr los. Glas splittert. Zusammen mit Heinz, der einen vollen Benzinkanister in der Hand trägt, laufen wir durch die Gärten den zehn Kameraden nach. Am. vorletzten Haus gehen wir in Deckung, aber wir müssen noch näher an den Panzer heran, um mit Erfolg werfen zu können. Doch das freie Gelände bis zum letzten Haus liegt im Schußfeld des Panzers. Dicht an unserer Deckung vorbei fegen seine MG-Garben. Wir zögern einen Augenblick, und ich setze den Kanister ab. Der Panzer kommt nicht näher. Zwei Griechen sind bei uns. Einer von ihnen greift sich den Kanister und läuft los. Der Panzer konzentriert sein Feuer auf ihn. Der Grieche stürzt hin, kriecht aber weiter. Gleich muß er die Deckung erreichen. Um das Feuer von ihm abzuziehen, werfen wir Handgranaten. Da brummt der Motor des Panzers auf. Das Brummen wird schwächer. Mit ras- selnden Ketten fährt der Panzer, immer noch schießend, zurück. Ohne Deckung zu nehmen, laufen wir zu dem letzten Haus. An dessen Mauer lehnt der ‚Grieche, ” 131 hastig atmend, aber doch mit frohem Gesicht. Wahr- scheinlich hat die Panzerbewaffnung den Kanister für eine Mine gehalten und hat eiligst kehrtgemacht. Der Marktplatz liegt noch immer verlassen da. Der Panzer schießt aus der Ferne. An der Mauer des Schul- hauses liegt jemand, Blut rinnt in den Staub. Ich laufe zu dem Verwundeten und drehe ihn herum. Es ist der Dicke. Fragend sicht Erich auf die zurückgebliebenen Kame- raden. „Der Dicke hat den. Papas niedergeschlagen, ist aus dem Fenster gesprungen und in die MG-Garben des Panzers hineingelaufen“, berichten sie. uns. Die Gefangenen werden aus der Schule herausgeführt. Wir. beraten, was nun geschehen soll. Wir werden uns so schnell nicht schlüssig, obwohl es höchste Zeit ist, weil die Engländer bald mit starken Kräften zurückkehren werden. Fast alle Männer aus Velestino müssen flüchten. Sie müssen wieder in die Berge gehen, aus denen sie gerade erst heimgekehrt sind. Denn wenn die Engländer kommen, sind sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Wir nehmen Abschied von ihnen. Nur den Papas vermissen wir. Zwei Trupps setzen sich in Bewegung. Die Grie- chen ziehen in die Berge, und wir marschieren. nach Larissa zurück. Die Gefangenen nehmen wir mit. In einem der letzten Bauernhäuser sind die Verwundeten untergebracht worden. Durch das geöffnete Fenster sche ich den Papas. Weiß er denn nicht, daß auch er wieder in die Berge muß? Ich laufe in das Haus, Er steht am Lager des Dicken und macht mir ein Zeichen, zu schweigen, wobei er auf den Sterbenden weist. „Wissen Sie nicht, daß Sie wieder fortmüssen?“ frage ich ihn. 132 Der Papas umarmt und küßt mich., „Noch braucht ein Sterbender meinen Beistand“, sagt er leise, Ohne Zwischenfall gelangen wir mit den Gefangenen auf Umwegen nach Larissa. Dort liefern wir sie beim ELAS-Kommandanten ab. Die Engländer verhalten sich völlig ruhig, so, als wäre nichts geschehen. Sie kümmern sich überhaupt nicht um die Gefangenen. Sie konnten es sich leisten, zu warten; denn einige Wochen später gab es hundert Velestinos in ganz Grie- chenland. In hunderten, tausenden Dörfern Blutgerichte. Angeklagt immer das Volk - Richter immer Faschisten. „KOMMEN SIE IN ENGLISCHE GEFANGENSCHAFTI“ Unsere Kompanie wird nach Volos verlegt. Volos ist bereits zehn Tage befreit. Der Kampf gegen die Nazis wurde entschieden und aufrichtig nur von der ELAS geführt. War ein griechisches Dorf oder eine griechische Stadt befreit worden, so ohne jede Hilfe der Tommys. Zuerst schickten die Engländer in jeden be- freiten Ort Panzervorkommandos, die sich sorgsam er- kundigten, ob auch die „Germans“ nicht mehr in der Nähe waren. Erst wenn die feststellte, daß eine Rück- kehr der Deutschen nicht zu befürchten war, rettete der Tommy die Demokratie. Der Bauer, der Student, der Arbeiter, der Intellektuelle, dem es gelungen war, vor den Deutschen in die Berge zu fliehen, war jetzt ein Opfer des Terrors, den faschistische Banden mit eng- lischer Hilfe errichten konnten. In den Straßen von Volos herrscht fleißiges Leben. Mit allen Kräften hilft das Volk seiner Regierung, der 3807 133 EAM. Freiwillige Kolonnen räumen die Ruinen, die Schuttberge weg. Im großen Gebäude der Stadtverwal- tung ist eifriges Kommen und Gehen. Dort sitzen zum ersten Mal in der Geschichte Griechenlands Vertreter des Volkes. Doch am nächsten Tag macht ein englisches Kriegs- schiff auf der Reede fest. Panzer werden ausgeladen, indische Soldaten und Negersoldaten steigen über die Fallreeps. Gleichzeitig treffen „Heimkehrer“ ein. Wohl- genährt, in nagelneuen Uniformen betreten etwa zwei- hundert Offiziere der königlichen Armee das Land. Sie waren mit den Engländern zusammen vor der Wehr- macht geflohen und kamen jetzt aus englischer Inter- nierung zurück. Wenn man sich die Gestalten ansah, ahnte man nichts Gutes. Frech und arrogant, als hätte nicht die ELAS, sondern als hätten sie die Wehrmacht vertrieben, stolzierten sie, mindestens zu viert, durch die Villenviertel der Stadt. Man hatte sie in unmittelbarer Nähe der Engländer untergebracht, das war auch not- wendig; denn beliebt waren sie nicht. Zu ihrem Empfang hatten sich keine fünfzig Griechen eingefunden. Ein zweiter und dritter Transport mit arroganten Söldlingen kommt nach Volos. Unter ihnen auch Rallis- Faschisten, die vor der ELAS haben fliehen müssen. Also vor der Wut des Volkes. Mit Englands Hilfe können sie als neue Herren das Land betreten. Trotz aller Provokationen benehmen sich die ELAS-Kämpfer diszipliniert. Eine der ersten Maßnahmen der Engländer gilt uns. Sie fordern die Auslieferung aller deutschen Kriegs- gefangenen und Überläufer. Die ELAS lehnt diese Forderung .ab. Sie teilt den Engländern mit, daß sich 134 die Kriegsgefangenen an der Aufbauarbeit beteiligen können und daß sie den Überläufern, deutschen Anti- faschisten, beschleunigte Rückkehr in die Heimat ver- sprochen habe. In Volos, in einer ehemaligen Kaserng, liegt ein Trupp von dreißig 999ern. Wir verabschieden uns herzlich von den Kameraden der ELAS-Kompanie und siedeln nach dorthin über. Viele alte Bekannte treffen wir. Nicht nur, daß uns die Monarchisten in den Straßen auflauern, uns niederzuschlagen versuchen, um uns den Engländern auszuliefern, auch die Engländer machen der griechischen Volksregierung unsertwegen die größten Schwierigkeiten. Die ELAS bittet eine Abordnung der deutschen Antifaschisten zu sich. Die Engländer haben in den griechischen Zeitungen die Meldung verbreiten lassen, daß deutsche Faschisten bei der ELAS wären. Nun fragen uns die ELAS-Vertreter, ob wir gewillt sind, bis zur Klärung der Frage in ein Lager zu gehen. Noch einmal versichern sie uns fest, daß die griechische Re- gierung alles tun wird, um uns bei Kriegsende die Rück- kehr in die Heimat zu ermöglichen, und daß sie uns niemals gegen unseren Willen den Engländern aus- liefern wird, Wir ziehen in ein großes, vierstöckiges Haus. Drei Etagen sind mit Kriegsgefangenen belegt, die vierte nehmen die Überläufer und die ehemaligen 999er ein. Wir sind im ganzen einhundertzwanzig Mann. Weil auch wir am Wiederaufbau Griechenlands mitarbeiten wollen, beteiligen wir uns an der Wiederherstellung der Eisenbahnstrecke Volos-Agria. Abends halten wir Vor- träge vor den Kriegsgefangenen. Eines Tages bekommen 10° 135 wir hohen Besuch: einen englischen Major und Ver- treter des Internationalen Roten Kreuzes, Der englische Offizier ist borniert und freundlich zu- gleich: „Kameraden“, redet er uns an, „kommen Sie in englische Gefangenschaft, Sie haben es nicht nötig, hier so schlecht zu leben.“ „Und zu welchen Bedingungen?“ fragen wir ihn. „Selbstverständlich wie jeder andere Kriegsgefan- gene“, lautet seine Antwort. Nein, Mister, gerade das wollen wir ja nicht. Gefan- gene waren wir lange genug. Nun stellen die Engländer der ELAS ein Ultimatum. Entweder Übergabe der Gefangenen oder gewaltsame Entführung. Die ELAS hat uns ihr Wort gegeben, und nun stellt sie uns anheim, in die noch freien Teile Grie- chenlands zu gehen. Es kostet uns keine lange Über- legung. In der Morgendämmerung brechen wir heimlich auf. Vorsicht ist notwendig, denn wir werden bespitzelt. Unser Ziel ist das zweihundert Kilometer entfernte Verria. Ein Partisan begleitet uns als Dolmetscher. Die EAM hat uns Papiere mitgegeben, in denen alle Bür- germeister gebeten werden, uns soweit wie irgend mög- lich zu unterstützen. GASTFREUNDSCHAFT DER ARMEN Die fünfzig Kilometer, die wir uns vorgenommen hatten, schaffen wir in einem Tag nicht, und wir be- schließen, im nächsten Dorf zu übernachten. Wir sind ziemlich gespannt, wie uns die Bevölkerung aufnehmen wird. Auf dem Marktplatz des Dorfes machen wir halt. Der Dolmetscher und ich gehen zur Bürgermeisterei. 136 Der Bürgermeister wirft einen Blick auf unser Schreiben, gibt es uns schweigend zurück und geht hinaus. Ver- dutzt folgen wir ihm. Auf dem Marktplatz hat sich mittlerweile fast die gesamte Bevölkerung des Dorfes versammelt. Der Bürgermeister fragt, wer einen deut- schen Antifaschisten bei sich aufnehmen will. Unsere Kolonne hätte doppelt so groß sein können, es hätte sich für jeden Platz gefunden. In den engen Bauernhäusern rücken alle zusammen, um uns wenigstens für eine Nacht ein bequemes Quar- tier zu verschaffen. Nur mit Mühe können wir die Bauern und Bäuerinnen davon abhalten, uns das letzte Stück Brot, das letzte Ei zu geben. Als wir am Morgen, umringt von unseren Quartiersleuten, auf dem Markt- platz antreten, stehen Wagen bereit, um unser Gepäck in das nächste Dorf zu bringen. Durch viele Dörfer kommen wir auf unserem Wege nach Verria. Überall treffen wir auf die gleiche Gastfreundschaft und Herz- lichkeit. „SCHICKELGRUBERS TRAUM“ Verria liegt im Norden Griechenlands. Es wirkt fast wie ein orientalisches Städtchen. Wir werden in einer großen Kaserne untergebracht und bekommen dieselbe Verpflegung wie die Partisanen. Sie ist nicht allzu reich- lich; wie könnte sie es auch sein, in diesem vom Kriege verwüsteten Land. Trotzdem, zu hungern brauchen wir nicht. Denn oft bekommen wir von der Bevölkerung einen Maiskuchen oder ein Sück Brot zugesteckt. Wir bilden Arbeitsgemeinschaften und büffeln vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Besonders er- 137 freut sind wir, daß es uns gelingt, einige junge Kame- raden vom Widersinn der faschistischen Theorien zu überzeugen. Weihnachten nähert sich. Wir wollen die Kameraden überraschen. Aber wie? Einer von uns kommt auf den Gedanken, ein Laienspiel aufzuführen. Schnell finden sich ein paar talentierte Kameraden. Jetzt heißt es, ein Stück ausfindig zu machen. Endlich beschließen wir, un- ser Laienspiel selbst zu schreiben. Lange können wir uns über den Titel nicht einigen, schließlich nennen wir es: „Schickelgrubers Traum“. Unsere griechischen Freunde sind mehr als erstaunt, als wir von überall her Hakenkreuzbinden, Orden und ähnliche „teure Angedenken“ besorgen. Als sie von unserem Vorhaben erfahren, drängen sie darauf, sich das Laienspiel ansehen zu dürfen. Die schwierige Kostümfrage haben wir gelöst, ebenso die Besetzungs- frage. Großes Kopfzerbrechen machte dabei der Stab des Lügenministers, einige hübsche Halbweltdamen. Doch auch hier finden wir einen Ausweg. Einige nicht so stark behaarte Kameraden bekommen Badehosen, provisorisch angefertigte Büstenhalter und schöne bunte Kopftücher. Der Tag der Aufführung ist gekommen. Alle Beteilig- ten sind sehr erregt, das Stück findet Zustimmung, wie wir sie nicht erwartet haben. Von Szene zu Szene gehen die Zuschauer mehr mit. Am Schluß hält Adolf Schickel- gruber eine „letzte Rede an sein Volk“ und will sich mit seinen Trabanten aus dem Staube machen. Daran hindern ihn bewaffnete Arbeiter. (Wir glaubten und hofften damals noch, das deutsche Volk würde sich in letzter Stunde selbst befreien.) Bei dieser Szene kommt 138 es zu cinem unvorhergesehenen Zwischenfall. Als die bewaffneten Arbeiter auf die Bühne treten, stürzen plötz- lich aus dem Zuschauerraum drei, vier Partisanen nach oben, um bei der Verhaftung der Nazigrößen mit- zuhelfen. Am nächsten Tag werden wir vom Kommandanten gebeten, das Laienspiel auch den Griechen in der Stadt vorzuführen. Nach einer nochmaligen Probe ernten wir bei der Aufführung im überfüllten Volkshaus von Verria großen Beifall. „CHRONIA POLLA“ „Chronia polla!“ („Viele Jahre!“). Mit diesem Gruß werden wir morgens geweckt, Es ist der Neujahrsgruß der Griechen. Und dem Neujahrsfest scheint man in Griechenland viel größere Bedeutung beizumessen als Weihnachten. Die Menschen sind festlich gekleidet, die Häuser sind geschmückt, und alle beschenken sich ge- genseitig. Am Vormittag besuchen viele Griechen die Kaserne, es sind in der Mehrzahl die Mitglieder der. Jugend- organisation EPON. Ein junger Grieche spricht zu uns. Dr. Karl über- setzt uns seine Rede. „Ich freue mich ganz besonders, einmal Deutsche kennengelernt zu haben, denen ich mit gutem Gewissen die Hand schütteln kann.“ So schließt der junge Grieche. Gegen Abend kommt aus der talwärts gelegenen Stadt ein langer Zug von Frauen und Mädchen. Alle tragen Pakete. Am Lazarett macht der Zug zum ersten Mal halt. Und die Verwundeten, die ihre Gesundheit für 139 die Freiheit geopfert haben, werden reich beschenkt. Die Frauen und Mädchen nähern sich der ELAS- Kaserne. Wir haben unsere Unterkunft festlich ge- schmückt. Arm in Arm mit den Frauen und Mädchen gehen wir hinein. Sie bitten uns, für einige Minuten zu verschwinden. Als wir zurückkehren, liegt auf jedem Platz ein Geschenk, wartet auf jeden ein Teller mit Kuchen, Äpfeln und Nüssen. Musik spielt auf, eine unseren Ohren anfangs etwas eintönig klingende Melodie. Die Frauen und Mädchen tanzen die Volkstänze ihrer Heimat. Zuerst stehen wir abseits, bald aber nehmen sie uns bei der Hand und ziehen uns in den fröhlichen Kreis. EIN MISSVERSTÄNDNIS Eines Abends erzählt uns Otto, wie er zu den Parti- sanen gekommen war. „Also ich war schon die ganze Nacht in den Bergen herumgeirrt, ohne irgend jemanden zu treffen. Als der Morgen gräute, entdeckte ich zwei bewaffnete Zivilisten. Ich ging in Deckung. Die beiden Zivilisten forderten mich durch Zeichen auf, näherzu- kommen. Ich war aber ganz vorsichtig, weil mir einfiel, daß auch die Rallis-Faschisten Waffen trugen. Deshalb rief ich laut: „Seid ihr Partisanen?“ und ebenso laut riefen die Griechen zurü: Ne, nel‘ In meiner Auf- regung dachte ich gar nicht daran, daß wohl kaum ein Grieche Berliner Dialekt spricht, und verkroch mich noch mehr hinter meiner Deckung. Nun holten mich die beiden Partisanen mit Gewalt. Eine ganze Weile dauerte es, bis ein Dolmetscher das Mißverständnis aufklärte. 140 “ Aber“, so schloß Otto, „ich werde nie vergessen, daß ‚ja‘ auf griechisch ‚ne‘ heißt.“ „ALLE WERDEN DEINE KINDER SEIN“ Schwere Tage brechen nun auch für Nordgriechenland und Verria an. Die Faschisten sind zurückgekehrt. Mit Duldung der Engländer errichten sie ihr Terrorregime. In alle noch freien Städte und Dörfer flüchten sich die Partisanen. Was sie über die Zustände in den von den Engländern besetzten Gebieten berichten, unterscheidet sich kaum von dem, was während der deutschen Besetzung Griechenlands geschah. Mit der Parole „Kampf dem kommunistischen Terror“ werden Dörfer überfallen. Es ist Anlaß genug, wenn sich die Bauern ihren Bürger- meister ‘selbst gewählt haben oder Genossenschaften bilden, um ihre Produkte zu verkaufen. In dem „kommu- nistisch verseuchten Dorf“ wird die „Ordnung“ wieder- hergestellt. Der ELAS stellen die Engländer ein Ulti- matum nach dem anderen. Sie fordern Waflenabgabe, während zur gleichen Zeit monarchistische Banden schwerbewaffnet durch die Straßen ziehen. Und im Februar 1945 sieht sich die ELAS gezwungen, ein Ab- kommen mit den Engländern zu unterzeichnen. Es ist das Abkommen von Warkizza. Es beendet den blutigen Krieg zwischen den ELAS-Verbänden und den eng- lischen Truppen. Die ELAS verpflichtet sich, sämtliche Waffen abzuliefern, und die Engländer versprechen, alle Gefangenen freizulassen. Gleichzeitig sichern die Engländer allen Partisanen, die an den Kämpfen teil- genommen haben, Amnestie zu. Einen Paragraphen 141 haben die Engländer in das Abkommen geschmuggelt: „Die Amnestie erstreckt sich nicht auf Personen, die ein mit politischen Kampfzielen absolut nicht verbundenes Verbrechen begangen haben.“ Und auf Grund dieses Paragraphen wird Anklage gegen achtzigtausend Parti- sanen erhoben. Das Prozeßmaterial besorgen ehemalige Rallis-Faschisten. Und achtzigtausend Partisanen wer- den verurteilt: zum Tode, zu lebenslänglicher Zwangs- arbeit, zu zwanzig Jahren Kerker. Auch Manolis Glesos wurde zum Tode verurteilt. Er hat als Partisan zu Beginn der deutschen Besetzung Griechenlands die Hakenkreuzfahne von der Akropolis geholt und die Fahne seines Landes gehißt. Achtzigtausend griechische Patrioten leben mit ihren Frauen und Kindern in der Verbannung auf den Todes- 142 “ u } inseln - wasserlosen Felswüsten. Sie werden von Seuchen dahingerafft und von den Wachmannschaften gefoltert. In Griechenland wohnen ungefähr 7640 000 Men- schen, das ist noch nicht einmal die Einwohnerzahl Groß-Londons. Warum erregt dieses kleine Land in solchem Maße das Interesse Englands und Amerikas? Die „New York Herald Tribune“ antwortet: „Wir haben die griechische Armee ausgerüstet, ausgebildet und be- raten, damit sie die Armee der monarchistischen Reak- tion werde. Wir unterstützen Griechenland nicht des- halb, weil es wirklicher Hilfe bedarf, sondern weil es für uns ein strategisches Tor darstellt zum Schwarzen Meer, in das Herz der Sowjetunion.“ ABSCHIED Der Kommandeur der ELAS bestellt uns zu sich. Sein Gesicht ist ernst: „Freunde, wieder kommt eine schwere Zeit für unsere Stadt. In wenigen Tagen wer- den die Engländer einmarschieren und mit ihnen dic neue Regierung. Ihr wißt, was das für uns bedeutet. Aber auch ihr seid gefährdet, die Engländer fordern eure Auslieferung, um euch vor Gericht zu stellen. Wir müssen uns jetzt trennen.“ Er händigt uns Reisepapiere aus, gibt uns ein Schrei- ben mit, in dem alle Bürgermeister in den Dörfern und Städten des noch freien Griechenlands aufgefordert wer- den, uns zu beherbergen und uns jede Unterstützung zu leisten. Der Kommandeur gibt uns die Hand. Morgens marschieren wir aus Vertia. Einen Blick werfen wir noch zurück auf die im Tal gelegene Stadt. 143 Auf Wiedersehen, Partisanen, auf Wiedersehen, tapferes griechisches Volk, auf Wiedersehen, Griechenland! Spiridon Risokostas, ein achtzehnjähriger Partisan, wurde zum Tode verurteilt. Er schrieb an seine Mutter aus der Todeszelle: „Liebe Mutti! Ich schreibe Dir meine letzten Worte und meinen letzten Wunsch: Weine nicht, gräme Dich nicht. Ich will, daß Du auf Deinen Sohn stolz bist. In ein baar Stunden werde ich in den Tod gehen wie zum letzten Kampf unter dem Banner der Freiheit, für die Tausende von Volkskämpfern gefallen sind. Mamachen, ich will, daß Du stark bleibst. Es gibt keinen Kampf ohne Opfer. Alle, die von uns am Leben bleiben, werden Deine Kinder sein. Mutter, ich lasse den Mut nicht sinken, obwohl uns nur noch ein paar Stunden vom Tod trennen. Zum letzten Mal singen wir jetzt unsere Lieder. Ich küsse Dich, Dein Sohn Spiro, lebe wohl.“ Das ist nur ein Brief, einer von Tausenden, wie ibn griechische Mütter bekommen haben. Der Brief eines Menschen, der gemordet wurde, weil er sein Volk liebte und für sein Volk siritt. Und wohl auch von ihm wer- den seine Mörder sagen, daß er ein Bandit, ein Un- mensch war. Das sagen sie nicht nur in Griechenland, auch Zeitungen, die deutsch schreiben, nennen Patrio- ten - Verbrecher. Mag sein, daß dich die Tränen grie- cbischer Mütter nicht berühren. Vielleicht liegt dir nur dein Kind, nur dein Mann am Herzen. 144 u Und dennoch geht auch dich Griechenland an, wenn du nicht willst, daß dir eines Tages dein Junge, dein Mann oder dein Bruder schreibt: „Weine nicht, ich muß sterben...“ Wir alle, und auch du, müssen gegen den Krieg, wo immer er tobt, kämpfen. Denn aus kleinen Kriegen werden große Kriege. Frage nicht, wie du dagegen kämpfen sollst. So, wie du es verstehst, mit ganz einfachen Worten. Denk immer 'edes Wort, jedes mutige Eintreten für die Wabhr- heit ist eine Tat. Es ist deine Pflicht, für den Frieden, für die Heimat zu leben und zu kämpfen. Wenn du aber schweigst, nichts tust, nicht kämpfst, kannst du zum Feind werden. Wenn du gleichgültig bist, biljst du dem Feind. Wenn du offenkundigen Lügen glaubst, wirst du zum Feind. Glaube nicht, daß die Feinde mit ihren Lügen so stark sind. Du bist viel, viel stärker. Heute schon steben für Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit Hunderte Millionen von Menschen. Und morgen werden es noch mehr sein. 145 Inhaltsverzeichnis Peiker Will een. Die kurze Vernehmung . . Der blaue Schein. 22222... Der Strich unter die Vergangenheit . . Auf dem Heuberg . . . „Sind Se von dieses? Auf der Ritterburg . . Explosion. onen Ausgerommeltl . 2... . rn Die Heimat hat uns wieder... . . . Es gibt Menschen unter den Leuten! . . Das große Experiment . . . . 500 +99 .... Ei Die Stimme der Font . 2.2... . Im Todeskeller 2.22.22... So macht man Quartier . 2.22... Rückzug Feuerle machen . 2 2 2222... Das sind ja Deutschel . . . . in Silvestergeuß . . . . . „Schön ist's bei den Soldaten!“ . . . . Ein Gründungskongeß . 2.2.2... Hochverrat! „Stambul“ und „Der grüne Schlips“ . . Organisation in Fahrt . . Laissa nv 20022 0.. Zwei Überfälle . . „Vorwärts, Jugend „Eure Einheit wird nicht angegriffen!“ . . . . Die Strafexpedition . 2 2...» Ein Flugblatt . . . Unerwartete Wirkung Die Eingebung . . . . . Hammel Die ELAS wehrt sich . . Minen Verräter onen . „Bierhandgranaten mitnehmen!“ . Rallides, nüchtern 2 2222... Der Entscheidung entgegen . . . . Ein Verschleppter 2 22.2.0. Ein Husarenstück Heimat 5.30 Fe Wie gchen hoh 222222... „Schwere Jungen“ 22222... Der Prozeb mono. Das Dynamitschiff 2.2.22... Ein dummer Zufall... . - En Zum ersten Mal nach elf Jaheen . . . „Du extra prima" . 2222... In den freien Bergen . . Leuchtraketen Das „Biest“ . . . In Larissa jubeln die Glocken . . . Schlächter, vortreten! . 2... 0. Die Engländer kommen! . 2... . Blate, elatel. . 0... Ein Strich durch die Rechnung . . . . - 102 105 107 108 am 114 119 122 Gastfreundschaft der Armen . „Schickelgrubers Traum“ . . „Chronia pollal“ . . . . Ein Mißversändnis . . ce en „Alle werden deine Kinder sein“... 0 0 nn Abschied oo een nn . 133 136 137 139 140 14, 143